Bundeskanzlerin Angela Merkel ist zurück aus Abidjan, dem Regierungssitz der Elfenbeinküste. Dort zeigten sich die Staats- und Regierungschefs von EU und Afrikanischer Union bei ihrem zweitägigen Gipfeltreffen entsetzt über die Lage der Migranten in Libyen, die es Richtung Mittelmeer, Richtung Europa zieht.
Der Präsident der Elfenbeinküste, Alassane Ouattara, sprach als Gastgeber davon, dass mehr getan werden müsse. Die Berichte über die Behandlung von Migranten in libyschen Lagern erinnerten "an die schlimmsten Stunden der Menschheit". Die deutsche Kanzlerin will mehr Geld geben für Flüchtlingscamps, der französische Präsident denkt über einen Militäreinsatz nach. Alle reden über einen internationalen Aktionsplan. Es sind Rituale, die sich seit Jahren wiederholen.
Mehr als 3.000 Tote im Mittelmeer
Seit Jahresbeginn sind mehr als 3.000 Menschen ums Leben gekommen, beim Versuch Europa übers Mittelmeer zu erreichen. Von 3.033 Toten und Vermissten starben allein 2.802 Migranten und Flüchtlinge auf der zentralen Route zwischen Libyen und Italien, wie die Zahlen einer aktuellen Studie der Internationalen Organisation für Migration (IOM) belegen. Ihr Generaldirektor William Lacy Swing kommentierte sie in Genf mit den Worten: "Es genügt nicht mehr, einfach diese tragischen Statistiken zu zählen. Wir müssen auch handeln."
Eingebrannt ins kollektive Bewusstsein hat sich der 3. Oktober 2013, als am späten Abend vor der Küste von Lampedusa ein Fischkutter mit mehr als 500 Menschen kenterte. Die meisten der Menschen an Bord kamen aus Eritrea und Somalia. 368 von ihnen ertranken.
"Auf der Insel hörte man die verzweifelten Stimmen, hielt sie aber in der Dunkelheit für das Kreischen von Möwen", schreibt die britische Historikerin Frances Stonor Saunders, die das Unglück in allen Details nachgezeichnet hat. Das Boot sei innerhalb weniger Minuten gesunken. "Die Überlebenden hielten sich fünf Stunden lang über Wasser; einige schafften es nur, indem sie sich an treibende Leichen klammerten."
Später, so die Autorin weiter, hätten Taucher eine Frau geborgen, die ein Kind geboren hatte, während sie ertrank. Weil niemand sie identifizieren konnte, bekamen die Toten vor dem Begräbnis eine Nummer: 288 für die Frau, 289 für ihr Baby.
"Wer ist verantwortlich für das vergossene Blut?" Diese Frage stellte Papst Franziskus kurz nach seiner Wahl 2013 bei einem Besuch in Lampedusa. In seiner Predigt hatte er nicht nur der vielen Tausend ertrunkenen Migranten gedacht, sondern gegen die Gleichgültigkeit angeredet.
Europäische Politiker haben die Verantwortlichen ausgemacht. Es seien die Schleuser und Menschenhändler, die aus reiner Profitgier schutzbedürftige Flüchtlinge in seeuntaugliche Boote steckten und deren Tod in Kauf nehmen würden. Auch die deutsche Kanzlerin Angela Merkel hat das auf ungezählten EU-Gipfeln, im Bundestag oder im Wahlkampf immer wieder klar gemacht. Es könne nicht richtig sein, "dass Schlepper und Schmuggler das Sagen haben und nicht mehr die Grenzkontrollen".
Europaweiter Kampf gegen Schlepper und Schleuser
Regelmäßig sprechen EU-Politiker über den Kampf gegen die ausgemachten Schleuserbanden. Sie haben eine europäische Polizeibehörde namens Frontex geschaffen, die den Kampf der Nationalstaaten gegen illegale Migration koordinieren soll. Die EU-Mitgliedsstaaten haben Kriegsschiffe an die nordafrikanische Küste gesendet, mit dem Ziel "Schleppernetzwerke aufzuspüren und zu zerstören".
Die Küstenwachen der nordafrikanischen Staaten Marokko und Tunesien werden geschult. Es fließen Millionen für Ausrüstung und Personal. Sogar mit dem im Chaos versunkenen Libyen kooperiert die EU. Am 3. Februar 2017 verabschiedeten die 28 Staats- und Regierungschefs bei einem informellen Treffen der EU auf Malta eine Zusammenarbeit mit Libyen zur "Eindämmung der Flüchtlingsströme". Das Ziel: Es sollen erst gar keine Migranten in Boote steigen.
Angela Merkel wusste, dass diese Zusammenarbeit mit Libyen mehr als problematisch ist. In einer Videobotschaft des Bundeskanzleramtes vom 28. Januar 2017 weist sie darauf hin: "Menschen nach Libyen zurückschicken zu können, das kann überhaupt erst ins Auge gefasst werden, wenn sich die politische Situation in Libyen verbessert hat."
Berichte von "KZ-ähnlichen Zuständen" in libyschen Flüchtlingslagern
Doch schon vor einem Jahr war klar, dass mit Libyen kein Staat und schon gar keine menschenrechtskonforme Politik zu machen ist. Das wusste sowohl das Kanzleramt als auch alle Abgeordneten des Deutschen Bundestages. Es ist nachzulesen in vertraulich gestempelten Dokumenten der Bundestagsverwaltung, verfasst vom Europa-Referat PE3 am 2. Februar 2017, einen Tag vor dem EU-Flüchtlingsgipfel in Malta. In dem vertraulichen Papier heißt es, laut Berichten des Auswärtiges Amtes "herrschen in privaten libyschen Flüchtlingslagern derzeit katastrophale Zustände, mit schwersten systematischen Menschenrechtsverletzungen (u.a. Exekutionen, Folter, Vergewaltigungen". Die deutsche Botschaft in Niger hatte nach Berlin von "KZ-ähnlichen Zuständen" berichtet. Einfluss auf die Realpolitik der Bundesregierung hatte dies offenbar nicht. Sie setzte weiter auf Kooperation mit den Staaten Nordafrikas.
Auf den ersten Blick sah es wie ein Erfolg aus. Tatsächlich ging 2017 die Zahl der ankommenden Migranten zurück: Erreichten im vergangenen Jahr 2016 noch etwa 388.000 Menschen auf dem See- oder Landweg Europa, waren es bis Ende November dieses Jahres nur knapp 175.000, teilte die IOM vor wenigen Tagen mit. Tatsächlich werden viele Migranten mittlerweile bereits in libyschen Hoheitsgewässern von den seeuntauglichen Booten gerettet und zurück in das Bürgerkriegsland gebracht. Gerade die libysche Küstenwache geht dabei nicht immer zimperlich vor. Erst vor kurzem, am 6. November 2017, kenterte ein Flüchtlingsboot wahrscheinlich deshalb, weil ein libysches Kriegsschiff Seenotrettungskräfte behinderte.
Und wer als Migrant zurück nach Libyen geschickt wird, muss mit dem Schlimmsten rechnen. Sabha, eine Stadt mitten in der libyschen Wüste: Knapp 800 Kilometer sind es bis zur Mittelmeerküste. Wer von Westafrika nach Europa will, muss hier durch. Sabha ist ein idealer Ort für Schleuser und Menschenhändler. Journalisten können nur mit hohem Aufwand und mit einer Schutzzusage lokaler Clanchefs berichten. Nach langwierigen Verhandlungen stimmt der Boss einer lokalen Schleuserbande zu, dass im Sommer 2017 ein Arabisch sprechender Journalist im Auftrag des Dänischen Fernsehen und ZDF Interviews mit Migranten aus Nordafrika und dem Schleuser führen darf. Einzige Bedingung ist: Der Schleuser will sein Gesicht nicht im Fernsehen sehen, auch nicht seinen richtigen Namen - ansonsten fühlt er sich sicher. Er habe keine Angst davor, dass seine Geschäfte öffentlich werden. Im Libyen gebe es niemanden, keine Staatsmacht, kein Militär, die Schleuser aus Afrika südlich der Sahara ernsthaft bekämpfen würden.
Schleuser: Nur Interesse an Profit
Es ist ein verschachtelter Gebäudekomplex mitten in der libyschen Wüstenstadt. Um die 30 Flüchtlinge warten darauf, ihre Reise Richtung Norden anzutreten. Doch wer nicht zahlen kann, gerät in ernsthafte Schwierigkeiten. Zwei Frauen haben nicht genug Geld. Sie werden verkauft, enden als Sklaven. Knapp 900 Euro - mehr ist in Sabha ein Menschenleben nicht wert. Den libyschen Schleuser interessiert nur der Profit. "Ich kaufe sie für 1.500 Dinar und verkaufe sie an andere Schleuser weiter. Sie bleiben eine Weile hier, und wenn ich einen guten Preis für eine von ihnen bekomme, verkaufe ich sie direkt weiter", sagt er.
Eine 24-jährige Frau aus Nigeria erzählt, sie sei schon vier Mal verkauft worden. "Ich wollte nicht hier bleiben. Ich wollte nach Europa und dort eine Arbeit finden, vielleicht einen Friseursalon eröffnen." Doch nun halte der Schleuser sie in Sabha fest. Wer sich nicht freikaufen kann, zum Beispiel mit Geld von Verwandten, werde zur Prostitution gezwungen, berichtet die Nigerianerin. "Ich kann nicht mehr. Ich kann diese Arbeit nicht länger machen." Im Hangar herrscht das Recht des Stärkeren. Schon am 13. Dezember 2016 beschreibt ein UN-Bericht "Libyen als die Hölle". Flüchtlinge berichten von Zwangsarbeit Misshandlungen, Folter, Vergewaltigungen, Menschenhandel, Sklaverei, Hinrichtungen.
Gewalt gegen Flüchtlinge gehört zum Geschäft
Für den Schleuserboss aus Sabha gehört Gewalt zum Geschäft. Er müsse so hart zu den Frauen sein, sagt er, sonst arbeiteten sie nicht. "Wir schlagen sie, wir nehmen ihnen das Essen weg, sodass sie uns folgen." In einem Land ohne Recht und Gesetz hat er nichts zu befürchten, ist der Schleuser sich sicher. "Früher hat uns die Polizei gejagt. Aber heute ist das nicht mehr so." Zu Zeiten des ehemaligen Diktators, Muammar-al-Gaddafi, sei er im libyschen Sicherheitsapparat tätig gewesen. Als mit dem Krieg der Lohn ausblieb, sei er ins Schleusergeschäft gewechselt. Derzeit gebe es keinen Job mit besserem Verdienst, das Risiko sei kalkulierbar. „Wir kennen die Routen sehr gut. Und unsere Autos haben wir so umgebaut, dass sie uns nicht kriegen.“ Im Hangar warten junge Afrikaner auf Ihre Weiterfahrt. Wenn 30 bis 40 zusammen sind, startet die Tour. Mit einem Toyota Pickup geht es 800 Kilometer durch die Wüste, immer Vollgas, immer Richtung Norden. Jeder zahlt rund 215 Euro an den Schleuser. Ihr Ziel: die libysche Küste, dahin wo die Boote ablegen, Richtung Europa.