Tierschützer werfen der Regierung eine Strategie der Verschleppung vor – besonders bei den Experimenten mit Affen.
"Wo immer möglich, müssen wir auf Tierversuche verzichten." Dieser Satz stammt von Julia Klöckner, der Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft, CDU. Ende November 2020 verlieh sie den Tierschutzforschungspreis der Bundesregierung an die Tübinger Wissenschaftlerin Anne-Katrin Rohlfing. Ihre Forschung an Zellkulturen mache viele Tierversuche überflüssig, lobte die Ministerin in ihrer Laudatio. Doch nach wie vor werden in Deutschland Abertausende von Tieren für Versuche gezüchtet, benutzt und getötet. Laut aktuellen Zahlen aus dem Haus Klöckner waren es 2019 zwei Millionen - etwa genauso viele wie im Jahr zuvor, darunter Tintenfische, Mäuse, Ratten, Kaninchen, Katzen, Hunde und Affen.
Tierleid im Auftrag der Wissenschaft
Paragraf 7, Absatz 2 des Tierschutzgesetzes erlaubt, Tieren Schmerz, Leid und Schaden zuzufügen, wenn es einem wissenschaftlichen Zweck dient. Doch seit Jahren gibt es Streit: Wie viel Leid ist nötig? Bündnis 90/Die Grünen wollen das Gesetz reformieren. In den vergangenen Jahren seien vielversprechende tierfreie Versuchsmethoden und -verfahren entwickelt worden, sagt Renate Künast, Tierschutzbeauftragte der Partei. Sie kritisiert: "Deutschland ist beim Schutz von Tierversuchen Schlusslicht."
Der Verein "Ärzte gegen Tierversuche e. V." verweist darauf, dass neben den zwei Millionen Versuchstieren 700.000 weitere für Organentnahmen getötet würden. Schließlich würden weitere drei Millionen Tiere getötet, die gezüchtet, aber gar nicht benötigt wurden, schätzt Corina Gericke, stellvertretende Vorsitzende des Vereins. Gericke weist daraufhin, dass bei der Coronaforschung parallel an Affen und an Menschen Impfstoffe getestet wurden und sich auch deshalb die Frage stellt, warum dann in diesem Fall die Versuche an Affen erforderlich gewesen sein sollen, wie Forscher behaupten. Als Beispiel zur Vermeidung von Tierversuchen nennt sie menschliche Lungen-Organoide, die ein ideales Testsystem seien, um eine Infektion mit dem Coronavirus zu simulieren und daran mögliche Medikamente zu testen.
Streit um Versuche an Affen
Vor allem um Experimente an Affen wird erbittert gestritten. 2018 wurden in Deutschland nach Angaben des Bundeslandwirtschaftsministeriums insgesamt 3.228 Affen und Halbaffen als Versuchstiere "verwendet". Die meisten Affen werden für sogenannte Giftigkeitsprüfungen "verbraucht" und danach getötet. In diesen Versuchen wird getestet, ob Chemikalien, Arzneien oder Impfstoffe gefährliche Wirkungen haben könnten.
Für die Tiere sei das "besonders qualvoll", schreibt der Deutsche Tierschutzbund. Gerade hier gäbe es Alternativen mit "tierversuchsfreien Teststrategien" auf der Grundlage von Zellkulturen. Knapp die Hälfte der "Versuchsaffen" wird laut Angaben der Bundesregierung "benutzt" für sogenannte Grundlagenforschungen, vor allem für die Hirnforschung.
Kritiker wie der Deutsche Tierschutzbund bezweifeln deren Sinn und sehen darin "fragwürdige Experimente an unseren nächsten Verwandten im Tierreich". Tatsächlich reagiert die Öffentlichkeit oft schockiert auf Bilder, die Affen zeigen, deren Schädel mit Metallaufsätzen verschraubt sind. Die Tiere können dabei den Kopf oft stundenlang nicht bewegen, während sie Aufgaben lösen sollen. Mit Hilfe von Elektroden, die ins Gehirn eingeführt wurden, werden Reaktionen einzelner Nervenzellen gemessen. Ebenso schockierend sind die öffentlich gewordenen Bilder von geheimen Experimenten, bei denen Affen Dieselabgase einatmen mussten.
Affen aus freier Wildbahn für Tierversuche?
Doch woher kommen all die Affen, die in Deutschland "verbraucht" werden? In Europa ist es verboten, Affen aus der freien Wildbahn für Versuche zu benutzen. Nur in Gefangenschaft gezüchtete Tiere dürfen zu Versuchszwecken eingesetzt werden, so schreibt es eine EU-Richtlinie aus dem Jahr 2010 vor. Außerdem fordert die Europäische Union, dass Züchter beraten werden müssen, wie sie den Anteil von wildgefangenen Affen mindern können. Zweck der Richtline: wildlebende Primaten besser zu schützen. Gelingt das oder kommen doch verbotenerweise auch wildgefangene Affen nach Deutschland? Ausgeschlossen ist das nicht. Dafür sprechen nach Recherchen von Frontal21 eine Reihe von Indizien.
Im Mittelpunkt steht dabei ein Primatenzentrum in Frankreich nahe Straßburg. Zu den angebotenen Dienstleistungen gehören laut eigner Darstellung die "Lieferung von Zuchttieren (Makaken, Büschelaffen, Meerkatzen)" sowie die "Erstellung von Blut- und Plasma-Proben" und "vorklinische Studien". Tatsächlich ist das von der Universität Straßburg betriebene Zentrum schon seit langer Zeit vor allem eins - ein wichtiger Lieferant von Laboraffen für Abnehmer in Deutschland.
Von Vietnam nach Frankreich und weiter nach Deutschland
Lieferscheine und Abrechnungen, die Frontal21 vorliegen, weisen auf lang bestehende Geschäftsverbindungen zwischen dem Primatenzentrum in Frankreich und deutschen Abnehmern hin. Dabei prangern Tierschützer die Zustände nahe Straßburg seit Langem an. Auch weil angeblich Affen aus freier Wildbahn zu Zuchtzwecken genutzt worden seien, fordern sie dessen Schließung. Vom jüngsten Protestmarsch gibt es ein dreiminütiges Facebook-Video. Die Aktivisten fordern "Gerechtigkeit für die Affen", die in dem Zentrum "für Experimente ausgebeutet" und "an Versuchslabore in sieben Ländern verkauft" würden.
Frontal21 hat zahlreiche ehemalige Beschäftigte befragt, Fotos und Dokumente einsehen können. Fünf ehemalige Mitarbeiter erheben schwere Vorwürfe. Die Rede ist von drastischen Verstößen gegen das Tierwohl in den vergangenen 30 Jahren. Tiere seien wiederholt zusammengepfercht worden, hätten sich verletzt und hätten deshalb eingeschläfert werden müssen.
Die Universität Straßburg nimmt zu diesen Vorwürfen Stellung und erklärt:
Die von Ihnen vorgetragenen angeblichen Tatsachen sind nur Bruchstücke, die aus dem Zusammenhang gerissen wurden von Personen, die nur sehr wenig von Affenkunde und insbesondere von der Haltung der Tiere in sozialen Gruppen verstehen. Falls es in solchen Gruppen überraschend zu schweren Verletzungen kommt, wird ohne zu zögern eingegriffen.
Ein Forscher hat daraufhin gekündigt und das Zentrum verlassen. In einem Abschiedsbrief klagt er, dass aus dem Forschungszentrum ein Umschlagplatz für Versuchstiere geworden sei. Der renommierte Primatenforscher, der aus beruflichen Gründe anonym bleiben will, endet in seinen Brief mit der Bitte an die Geschäftsführung:
Zu den Vorwürfen des Primatenforschers erklärt die Universität:
Ronald Noe ist vor Kurzem kontaktiert worden wegen seiner Äußerungen. Er hat daran nur noch eine sehr schwache Erinnerung und konnte uns keine präzisen Angaben mehr machen. Womöglich resultierten seine Äußerungen nur aus Konflikten mit Personal, das heute in der Einrichtung nicht mehr beschäftigt wird.
Außerdem hat die Redaktion die zuständige Präfektur in Straßburg informiert. Die ausführlichen Fragen der Redaktion, wie die Behörde das Affenzentrum überwacht hat und was die Kontrollergebnisse sind, beantwortet die Präfektur mit einem Satz: "Wir danken Ihnen für diese Informationen und möchten Ihnen mitteilen, dass diese Einrichtung entsprechend der gesetzlichen Vorschriften regelmäßig überprüft wird."
Gesundheitsbehörde warnt vor katastrophalen Zuständen
Eine große Zahl der Affen des Straßburger Primatenzentrum stammt aus Vietnam. Im Frühsommer 2008 wurde nach Rechnungen, die Frontal21 vorliegen, eine Ladung an Javaneraffen von Vietnam Richtung Frankreich versandt. Die 52 Affen gab es zum Spottpreis von zehn US-Dollar pro Tier. In einem Bericht warnte die französische Gesundheitsbehörde ANSES bereits im Jahr 2011, in Vietnam würden Laboraffen unter teils katastrophalen sanitären Voraussetzungen im großen Stil zu Spottpreisen produziert.
Laut der Behörde seien auch Wildtiere in die vietnamesische Zucht gelangt. Die werden demnach aus Kambodscha geliefert, obwohl das Land schon vor Jahren vom weltweiten Affenhandel ausgeschlossen worden war. Weil nicht auszuschließen ist, dass weiterhin illegal wildlebende Affen für die Zucht von Laboraffen gefangen werden, verschärft Frankreich die Gesetze. Ab 2022 soll der Import von Nachkommen von in der Wildnis geborenen Affen aus Vietnam nach Frankreich verboten werden. Das teilte das zuständige Agrarministerium in Paris dem ZDF auf Anfrage mit. Renate Künast kennt die Verhältnisse vor Ort. "Es ist nicht zu verantworten, dass in Südostasien wilde Affen gefangen, als Nachwuchs um deklariert werden, um sie dann hier in Tierversuchen zu töten", sagt sie im Gespräch mit Frontal21.
Deutschland auf der Anklagebank - Klöckner unter Druck
Die Bundesregierung und das zuständige Agrarministerium wurden mehrfach von der EU-Kommission aufgefordert, endlich im Sinne des europaweit verbindlich geregelten Tierschutzes zu handeln. Passiert ist jahrelang fast nichts. Und so eröffnete die Kommission am 20. Juli 2018 ein sogenanntes Vertragsverletzungsverfahren. Auf 28 Seiten listet die Kommission die Versäumnisse der deutschen Regierung auf: zum Beispiel, dass regelmäßige und genaue Kontrollen von Züchtern, Lieferanten oder Forschern fehlen. Solche Kontrollen müssten auch unangemeldet stattfinden. Nichts davon sei umgesetzt, schrieb die Kommission. Eine bessere Zucht, Unterbringung und Pflege der Versuchstiere - nicht umgesetzt, so steht es in der Anklageschrift. Tierversuche sind nur erlaubt, wenn es keine andere Möglichkeit gibt, das wissenschaftliche Ziel zu erreichen. Das müsse streng geprüft werden, verlangt die Kommission. Auch das habe Deutschland nicht korrekt umgesetzt.
Julia Klöckner weiß, die Bundesregierung kann sich den Brüsseler Anforderungen nicht ewig entziehen. Einen Prozess vor dem Europäischen Gerichtshof will die Ministerin unbedingt vermeiden. Doch ihre Ankündigungen bleiben vage. Die Gesetzesänderung soll noch in dieser Legislaturperiode in Kraft treten, erklärt sie gegenüber Frontal21, also angeblich bis zum Sommer 2021. Dann hätte die Bundesrepublik elf Jahre gebraucht, um das Tierschutzgesetz zu reformieren.