Um Lenins Mausoleum am Roten Platz ist es ruhig an diesen Tagen. Weder Großveranstaltungen noch festliche Gedenkzeremonien sind zum 100. Jubiläum der Oktoberrevolution in Moskau offiziell geplant. Die Bevölkerung interessiert sich nur wenig für Revolutionsmythen und Heldentaten der Bolschewiki; Präsident Wladimir Putin feilt indessen an seiner eigenen Inszenierung der russischen Revolution.
Der Zar und seine Mörder
Das Jahr 1917 brachte gleich zwei politische Umbrüche für Russland mit sich. Erst die Februarrevolution, im Zuge derer der letzte Zar der Romanow-Dynastie gestürzt wurde. Ein gutes halbes Jahr später nutzen Lenin und Trotzki die Stimmung gegen den Ersten Weltkrieg und die zunehmende Armut der Bevölkerung, um in der Oktoberrevolution gegen die provisorische Regierung vorzugehen. Die Revolutionäre legten mit dem Sturm auf den Winterpalast den Grundstein der Sowjetunion.
Lauscht man heute den Tönen Putins, so sind beide Revolutionen nicht als politische Brüche in der eigenen Geschichte zu interpretieren. Vielmehr spricht er von der „großen Geschichte des ewigen Russlands“. Laut diesem Geschichtsverständnis erstreckt sich die Epoche der „großen, russischen Revolution“ vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs bis zum Ende des Bürgerkriegs 1921, dem Jahr 1917 käme keine herausragende Bedeutung zu. Auch die Staatsführer und Lenker – der letzte Zar, Lenin, Stalin – nennt er in einem Atemzug und bezeichnet sie als große, gleichwertige Nationalhelden. Korrespondierend dazu wird am 4. November in Russland der „Tag der Volkseinheit“ gefeiert. Der 7. November, das tatsächliche Jubiläumsdatum der Revolution, ist ein Werktag wie jeder andere.
Die verdrängte Revolution
Die politische Aufarbeitung der sowjetischen Vergangenheit findet nicht statt. Die Darstellung Russlands als große Einheit und Garant für Stabilität gelingt, wenn man den Blick auf das große Ganze legt. Die Oktoberrevolution gilt als Verschwörung der Bolschewiki und der Deutschen, aber nicht als eine Machtübernahme aus der Mitte des Volks heraus. Revolutionen werden unter Putins Regime ohnehin nicht gerne thematisiert. Potentielle Unruheherde und Reformabsichten gilt es zu unterbinden; große Festakte zu Ehren einer Revolution passen unter diesen Umständen nicht ins Bild, zumal im Dezember der Wahlkampf offiziell beginnt.
Wahlkampfbeginn im Dezember
Putin hat sich in für diese Präsidentschaftswahlen hohe Ziele gesetzt, in Regierungskreisen spricht man von der Erfüllung der „70/70“. 70% der Wählerstimme bei 70 % Wahlbeteiligung. Die Gegenkandidaten sind zum Teil vertraute Gegner, wie z.B. Wladimir Schirinowski. Mit dem Oppositionspolitiker Alexej Nawalny erscheint auch ein neues Gesicht auf der Wahlkampfbühne. Doch hier verfolgt die Regierung eine ähnliche Taktik wie bei der Aufarbeitung der eigenen Geschichte: Verdrängen. Für politische Aktivitäten, unter anderem auch Demonstrationen, wurde Nawalny mehrmals verhaftet oder unter Arrest gestellt. Die Zentrale Wahlkommission nutzt diese Vorstrafen als Begründung, der Gegenkandidat wurde bis jetzt nicht offiziell zur Wahl zugelassen.
Nawalny zeigt sich davon unbeeindruckt und setzt den Aufbau seiner Wahlbüros in über 70 verschiedenen russischen Städten fort. Der Widerstand in Russland lässt sich auch durch staatliches Eingreifen und Regulierungen nicht vollständig beseitigen.
von Dilay Avci