Ukrainischer Ringer Schan Belenjuk: Im Namen des Parlaments

Schan Belenjuk atmet immer noch ein bisschen schwerer. Sein Halbfinalduell im griechisch-römischen Ringen bis 87 Kilogramm ist erst seit wenigen Minuten vorbei. In der Interviewzone läuft der Fernseher mit dem nächsten Kampf. Es geht hart zur Sache am Mittwochabend. Uiuiui, kommentiert Belenjuk, er scheint die Griffe mitzufühlen. Ein Ringer durch und durch, Olympiasieger von 2021. Einerseits.

Andererseits ist Belenjuk nicht nur Sportler, sondern auch Abgeordneter im Parlament seines Landes. Und sein Land ist die Ukraine.

Bei Olympia vereint er beide Jobs, indem er seine Teilnahme als patriotischen PR-Auftrag versteht. Dabeisein ist nicht alles für ihn, und auch sportlicher Erfolg kommt nicht an erster Stelle. Es geht um Dabeisein und die Bühne zu nutzen, um so oft und so breit wie möglich auf die Gräuel in der Heimat aufmerksam zu machen.

Damit, dass er sein Halbfinale gegen den Iraner Alireza Mohmadipiani unglücklich verloren hat, will sich der 33-Jährige am Mittwochabend in der Marsfeld-Arena von Paris daher gar nicht lange aufhalten. Nach 3:0-Führing ging es 3:3 remis aus, und die Kampfrichter erklärten Mohmadipiani zum Sieger.

"Nach unseren Regeln gewinnt (bei Gleichstand in den Wertungen und bei den Verwarnungen, d. Red.) derjenige, der den letzten Punkt macht", erklärt Belenjuk lapidar. Dann kommt er von selbst auf das wichtigere Anliegen zu sprechen:

Deshalb bitte man die Welt immer wieder um Unterstützung. Denn niemand wisse: "Können wir auch in Zukunft noch zu Olympischen Spielen kommen?" Belenjuk selbst ist zum dritten Mal dabei. 2016 gewann er Silber, 2021 Gold. Am Donnerstagabend kämpft er um Bronze.

Seit 2019 sitzt er zudem für die Partei von Präsident Wolodymyr Selenskyj im Kiewer Parlament. Belenjuk ist der erste Abgeordnete in der ukrainischen Geschichte mit afrikanischen Wurzeln. Seine Mutter ist Ukrainerin, sein Vater stammte aus Ruanda und studierte in den 1980ern an der Universität Kiew. Später wurde er während des Bürgerkriegs in seiner Heimat zum Militärdienst einberufen und starb.

Sein Sohn hätte wie viele bis zuletzt nicht geglaubt, dass er einen Krieg in Europa erleben müsse. Doch als in den Morgenstunden des 24. Februar 2022 die Russen auf Kiew marschierten und die Stadt bombardierten, eilte Schan Belenjuk trotz der Explosionen ins Parlament, um der Verhängung des Kriegsrechts zuzustimmen.

Seither musst er sich nicht nur zwischen Sport und Politik aufteilen ("Ich bin gut im Zeitmanagement" sagt er von sich), sondern sein Training auch unter den logistisch wie psychologisch schweren Kriegsbedingungen durchziehen. Mehrere 100 ukrainische Athleten sollen im Zuge des russischen Angriffs bereits getötet worden sein.

Umso beeindruckender ist, dass die Ukraine in Paris schon jetzt mehr Goldmedaillen gewonnen hat als vor drei Jahren in Tokio zu Friedenszeiten. Damals war Belenjuk ihr einziger Olympiasieger. Nun haben bereits die Säbel-Fechterinnen und die Hochspringerin Jaroslawa Mahutschich triumphiert.

"Und ich glaube, da kommt noch mehr", sagt Belenjuk - etwa am Donnerstag durch den Ringerkollegen Parwiss Nassibow im Finale der Kategorie bis 67 Kilogramm gegen den Iraner Saeid Esmaeili Leivesi.

Jede Medaille und zumal jeder Sieg vergrößert den Lautsprecher, so sieht es Belenjuk. Der "Mindestjob" eines ukrainischen Athleten bei Olympia sei es, "über die Ukraine zu sprechen." Wenn einer darüber hinaus ein gutes Resultat erziele - umso besser: "Dann kann er noch mehr darüber sprechen."