Mit Arbeitssieg ins Achtelfinale:Türkei: Das große Problem bleibt ungelöst
von Claudio Palmieri
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Mit dem späten 2:1-Sieg gegen Tschechien löst die Türkei das Ticket zum EM-Achtelfinale – und feiert wieder ein Volksfest. Sportlich bleiben viel Arbeit und ein Grundsatzproblem.
Trotz kämpferischer Leistung in Unterzahl haben die Tschechen das Achtelfinale verpasst. Mit dem Siegtreffer in der Nachspielzeit schoss die Türkei sich eine Runde weiter.26.06.2024 | 8:31 min
Man kann es nicht anders sagen: Im Feiern sind die Türkei und ihre Fans europameisterlich. Dem späten 2:1-Siegtor gegen Tschechien durch Cenk Tosun (90.+4) waren laute "Türkiye, Türkiye"-Chöre vorausgegangen, die minutenlang angehalten hatten.
Der Großteil der 47.683 Zuschauer im Hamburger Volksparkstadion schien sich seiner Sache ziemlich sicher zu sein. Wenig später beseitigte der in Wetzlar geborene Tosun dann die letzten Zweifel am Achtelfinaleinzug - und das Stimmungsbarometer erreichte Dimensionen, die an selber Stelle wohl nur ein Wiederaufstieg des HSV toppen könnte.
Das nächste Volksfest nahm seinen Lauf: erst vor dem vollbesetzten türkischen Block, wo sich die Elf von Trainer Vincenzo Montella kurz nach Schlusspfiff versammelt hatte, und schließlich am Mittelkreis. Bir, iki, üç - und die Dezibel schnellten wieder in die Höhe.
Bereits vor dem Spiel der Türkei gegen Tschechien haben sich zehntausende türkische Fans in Hamburg versammelt.26.06.2024 | 1:09 min
Montella: "Viele Kritiken waren unbegründet"
Die teils schmutzigen öffentlichen Debatten, die es zwischen der 0:3-Packung gegen Portugal am vergangenen Samstag und dem Arbeitserfolg gegen Tschechien gegeben hatte, waren auf der Pressekonferenz am spätem Mittwochabend fast schon wieder vergessen.
Mit den Worten "Sie haben die ganze Türkei und die Fans, auch in Deutschland, glücklich gemacht" gratulierte ein Journalist Montella zu Platz zwei in Gruppe D. Der italienische Coach, der im Oktober Stefan Kuntz an der Seitenlinie beerbt hatte, nutzte die Gunst der Stunde:
Dass der Erfolg über bis zum Schluss tapfer kämpfende Tschechen ein hartes Stück Arbeit war, wollte Montella nicht unterschlagen. "Wir hätten unsere Überzahl besser nutzen und früher den Deckel draufmachen können", räumte der einstige Top-Stürmer ein.
Montella muss einige Baustellen beheben
Die Überzahl nach der Gelb-Roten Karte gegen Tschechiens Mittelfeld-Ass Antonín Barák in der 20. Minute war dem EM-Halbfinalisten von 2008 nur phasenweise anzumerken. Dass das 1:1 durch Tomas Soucek (66.), der den türkischen Torwart Mert Günok im Fünfmeterraum bedrängt hatte, der Überprüfung durch den VAR standhielt, überraschte. Unverdient war der Ausgleich aber keineswegs.
Bis zum Achtelfinale - am Dienstag (21 Uhr) geht es in Leipzig gegen Österreich - wartet also noch viel Arbeit auf Montella. Der in Mannheim geborene Kapitän und Mittelfeld-Star Hakan Calhanoglu, der in Minute 51 das 1:0 erzielt hatte, wird gelbgesperrt fehlen. Gleiches gilt für Abwehrmann Samet Akaydin.
Wie die Türkei diese Baustellen beheben will, verriet Montella freilich noch nicht. "Es wird mir zu viel über das nächste Spiel gesprochen statt über das heutige", merkte er an.
Im Achtelfinale bei der Fußball-EM 2024 bekommt es Österreich mit der Auswahl aus Türkei zu tun. Alle Tore der Vorrunde im Überblick.26.06.2024 | 6:02 min
Fronten zwischen Verband und Fans verhärtet
Dass die Fronten zwischen dem türkischem Verband und den Fans immer noch verhärtet sind, zeigte sich eine gute halbe Stunde vor Spielbeginn. Als nach dem Aufwärmen ein Videogruß des türkischen Teammanagers Hamit Altintop an die eigenen Fans über die Stadionbildschirme lief, schwenkte die Partystimmung auf den Rängen schlagartig um - und ein gellendes Pfeifkonzert setzte ein.
Immer wieder tauchen Vorwürfe auf, wonach sich Verbandsfunktionäre in sportliche Belange einmischen. Beim 0:3 gegen Portugal hatten sich unter anderem Top-Talent Arda Güler und Rechtsverteidiger Mert Müldür zunächst auf der Bank wiedergefunden. Beide hatten beim 3:1-Auftaktsieg gegen Georgien zu den stärksten Akteuren gehört - und die Fans vom Bosporus mit Traumtoren schon von mehr träumen lassen.
Zu Österreich bezog Montella am Ende doch noch Stellung:
Montella weiß, wovon er spricht: Im März war seine Elf in einem Test gegen das ÖFB-Team in Wien mit 1:6 untergegangen.