Interview
EU und Lateinamerika:"Beziehungen an einem Wendepunkt"
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EU-Gipfel mit der Gemeinschaft lateinamerikanischer und karibischer Staaten: Politologin Claudia Zilla erklärt, wie verschieden die Interessen sind - und welche Konflikte es gibt.
ZDFheute: Erstmals nach acht Jahren kommt es nun in Brüssel zu einem Gipfeltreffen von 27 EU-Staaten und 33 Staaten Lateinamerikas und der Karibik. Weshalb hatte man sich so lange nichts zu sagen?
Claudia Zilla: Ich glaube schon, dass man sich etwas zu sagen hatte. Aber ein Gespräch setzt voraus, dass die Beteiligten bereit sind, sich an einen Tisch zu setzen. Die biregionalen Beziehungen hatten in den letzten Jahren weder für die EU noch für Lateinamerika und die Karibik Priorität auf deren internationaler Agenda. Auch innerhalb der Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten (Celac) gab es unterschiedliche Positionen zu einer Reihe von Fragen, die die Zusammenarbeit erschwerten.
ZDFheute: Was erschwerte die Kooperation?
Zilla: Ideologische Differenzen führten zu Spaltungen oder zur Suspendierung der Teilnahme an der CELAC, wie im Falle Brasiliens unter Bolsonaro. Aber auch Uneinigkeit über den Umgang mit Krisen und Autoritarismus in der Region, etwa mit Venezuela, erschwerten die Zusammenarbeit. Und insgesamt gibt es keinen breiten Konsens darüber, welche Rolle die Region international spielen will und soll.
Quelle: SWP Berlin
… ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Amerika der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Berlin. Zu den Arbeitsschwerpunkten der aus Argentinien stammenden, promovierten Politikwissenschaftlerin zählen die Außenpolitik lateinamerikanischer Staaten und die europäisch-lateinamerikanischen Beziehungen. Die SWP berät den Deutschen Bundestag und die Bundesregierung in allen außenpolitischen Fragen.
ZDFheute: Die EU möchte die Zusammenarbeit mit Lateinamerika und der Karibik intensivieren. Worin liegen die Hauptmotive dafür?
Zilla: Auf der Seite der EU sehe ich ein politisches und ein ökonomisches Hauptmotiv, die beide Teil einer Strategie der Diversifizierung ihrer Außenbeziehungen sind. Politisch sucht die EU verstärkt nach Verbündeten in der Welt. Vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine, der zunehmenden Machtkonkurrenz zwischen den USA und China und der weltweiten Autokratisierungswelle wird die Auswahl an Akteuren, von denen die EU Unterstützung erwarten oder mit denen sie gemeinsame Positionen abstimmen kann, immer kleiner.
ZDFheute: Wie kommt das bei den lateinamerikanischen Staaten an?
Zilla: Das wiedererwachte Interesse der EU wird in Lateinamerika und der Karibik allgemein begrüßt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass man sich der EU ohne Vorbehalte oder Forderungen in die Arme wirft. In der Region herrscht bei vielen das Bild einer EU vor, die von den anderen erwartet, sich den eigenen Regeln anzupassen und den eigenen Positionen zu folgen.
ZDFheute: Begegnet man sich auf Augenhöhe oder gibt es noch immer starke Ungleichgewichte in den Beziehungen?
Zilla: Das von der EU immer wieder beschworene Narrativ der Augenhöhe interpretiere ich eher als Symptom der in vielen Politikfeldern bestehenden oder angenommenen Asymmetrie. Ich halte es für produktiver, diese Ungleichgewichte zu thematisieren, als sie mit einem Diskurs kultureller Nähe und gemeinsamer Werte zu überdecken. Die Staaten Europas und Lateinamerikas haben sich voneinander entfernt und stehen jetzt möglicherweise an einem erneuten Wendepunkt in ihren Beziehungen.
Das sind die wichtigsten Punkte des EU-Lateinamerika-Gipfels:
Zum dritten EU-Celac-Gipfel werden Staats- und Regierungschefs aus bis zu 60 Staaten in Brüssel erwartet. Darunter sind die 27 EU-Länder und die 33 Celac-Staaten. Sie umfassen mehr als eine Milliarde Menschen, also gut ein Achtel der Weltbevölkerung.
Zur Celac gehören alle souveränen Länder des amerikanischen Kontinents außer den USA und Kanada. Darunter sind Argentinien, Brasilien, Chile und Mexiko, aber auch sozialistische Länder wie Kuba und Venezuela. Der kleine karibische Inselstaat St. Vincent und die Grenadinen hat derzeit den Celac-Vorsitz inne.
Zur Celac gehören alle souveränen Länder des amerikanischen Kontinents außer den USA und Kanada. Darunter sind Argentinien, Brasilien, Chile und Mexiko, aber auch sozialistische Länder wie Kuba und Venezuela. Der kleine karibische Inselstaat St. Vincent und die Grenadinen hat derzeit den Celac-Vorsitz inne.
Offiziell geht es um eine Erneuerung der Partnerschaft beider Weltregionen "zur Stärkung von Frieden und nachhaltiger Entwicklung". Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell nennt engere Beziehungen zu Lateinamerika eine "strategische Notwendigkeit". Dabei geht es nicht nur um geopolitische und wirtschaftliche Themen, sondern auch um eine engere Zusammenarbeit bei Umwelt- und Klimaschutz. Der letzte EU-Celac-Gipfel hatte 2015 in Brüssel stattgefunden.
Sie erhofft sich ein klares Bekenntnis zum Multilateralismus und zu Frieden und Sicherheit in der Welt. Die sozialistischen Celac-Länder Kuba und Venezuela warnen die EU allerdings vor einem "Scheitern" des Gipfels. Die traditionell mit Russland verbündeten Staaten wollen verhindern, dass der Ukraine-Krieg in der Abschlusserklärung erwähnt wird. Aber auch andere Länder der Region wollen nicht mit Russland brechen. Brasilien etwa hatte die Ukraine kürzlich aufgerufen, für Friedensverhandlungen mit Moskau auf die Krim-Halbinsel zu verzichten.
Am Rande des Gipfels will die EU eine Reihe von Kooperationsabkommen unterzeichnen. Geplant sind nach Angaben der EU-Kommission Energiepartnerschaften mit Argentinien und Uruguay. Zudem soll ein Rohstoffabkommen mit Chile unterzeichnet werden. Auf das Land entfällt rund ein Viertel der weltweiten Lithium-Produktion. Der Rohstoff wird für Batterien benötigt. Die EU will sich damit unabhängiger von China machen.
Die Europäer wollen bei dem Gipfel Kredite im Umfang von 800 Millionen Euro für Klimaschutzprojekte in Argentinien, Brasilien und Chile ankündigen. Die Europäische Investitionsbank (EIB) unter ihrem deutschen Vorsitzenden Werner Hoyer will dafür Verträge unterzeichnen. Mit dem Geld soll unter anderem der Ausbau erneuerbarer Energien in den südamerikanischen Ländern finanziert werden.
Hier sind die Fronten verhärtet. Die EU will zusammen mit Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay die größte Freihandelszone der Welt schaffen. Das bereits 2019 geschlossene Mercosur-Abkommen ist jedoch bisher nicht ratifiziert. Die Europäer dringen auf strenge Umweltauflagen für südamerikanische Landwirte, Argentinien und Brasilien nennen dies jedoch "inakzeptabel".
Quelle: AFP
Quelle: AFP
ZDFheute: Kurz vor dem Gipfel haben die Celac-Staaten die EU aufgefordert, Reparationszahlungen für durch die Sklaverei verursachte Schäden zu leisten. Wie bewerten Sie diesen Schritt?
Zilla: Das ist in meinen Augen Teil einer "Bekenntnispolitik", die von beiden Seiten gepflegt wird. Dazu gehört etwa die europäische Erwartung, dass Lateinamerika zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ebenso entschieden und inhaltlich konform Stellung bezieht. Es ist aber auch eine Strategie der Celac-Staaten, den Machtasymmetrien zu begegnen, die historisch im Zusammenhang mit ausbeuterischen Verhältnissen stehen.
Aruba, Bonaire, Curacao - der karibische Teil des niederländischen Königreichs war einst Drehscheibe für Sklavenhandel. Seit Jahren warten die Menschen hier auf eine Entschuldigung ihres Königs.20.02.2023 | 13:15 min
ZDFheute: Sehen Sie auf der EU-Seite echte Bestrebungen, die von Ihnen angesprochenen Ungleichgewichte zu beseitigen?
Zilla: Es ist nicht so einfach, Machtasymmetrien, die struktureller Natur sind, zu beseitigen. Das geht weder per Beschluss noch im Alleingang. Und im Übrigen gibt es eine Reihe von Aspekten, bei denen Lateinamerika und die Karibik im Vorteil sind.
Aber es ist wichtig zu versuchen, diese Asymmetrien abzubauen und auszugleichen. Ich sehe auf Seiten der EU ein wachsendes Bewusstsein dafür, dass die biregionalen Beziehungen nicht auf den alten Fundamenten wiederbelebt werden können, sondern dass es eines veränderten Ansatzes und einer zukunftsorientierten Agenda bedarf.
Das Interview führte Marcel Burkhardt.
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