Willy Brandt: Mit Bürgerbeteiligung "mehr Demokratie wagen"

    55 Jahre "Mehr Demokratie wagen":Was ist aus Brandts berühmtem Satz geworden?

    ZDF-Reporterin Annette Pöschel in Magdeburg
    von Annette Pöschel
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    Willy Brandt war der erste sozialdemokratische Kanzler der Bundesrepublik. Sein Versprechen: mehr Transparenz und Bürgerbeteiligung für mehr Demokratie. Hat das funktioniert?

     Antonia Lilly Schanze vor einer Graffitiwand
    Demokratie muss nicht alt, steif und verstaubt sein. Egal ob Jungpolitiker, Influencerin oder Kulturverein - sie alle geben der Demokratie einen neuen Look.19.09.2024 | 29:44 min
    Westdeutschland 1969: Zwanzig Jahre nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland ist die Demokratie fest etabliert. Bisher waren die Regierungen überwiegend konservativ, und die gesellschaftlichen Strukturen sind verknöchert. Vor allem die junge Generation lechzt nach Veränderung, nach Fortschritt.
    In dieser Zeit übernimmt Willy Brandt das Kanzleramt: "Wir wollen mehr Demokratie wagen. Wir werden unsere Arbeitsweise öffnen und dem kritischen Bedürfnis nach Information Genüge tun. Wir werden darauf hinwirken, dass (…) jeder Bürger die Möglichkeit erhält, an der Reform von Staat und Gesellschaft mitzuwirken", wie er in seiner Regierungserklärung am 28.10.1969 erklärte.

    Regierung Brandt: Wichtige Reformgesetze umgesetzt

    Vieles konnte umgesetzt werden, fasst die Historikerin Kristina Meyer zusammen. Etwa: "die Herabsetzung des Wahlalters und der Volljährigkeitsgrenze auf 18 Jahre, die Einführung des Bafög ganz zentral. Dann die Reform des Betriebsverfassungsgesetzes, wichtige Gesetzesänderungen im Familienrecht, die das Selbstbestimmungsrecht von Frauen deutlich stärkten."
    Archiv: Willy Brandts Kniefall in Warschau, 07.12.1970
    Am 07. Dezember 1970 legte Willy Brandt als erster deutscher Nachkriegskanzler vor dem Denkmal für die Opfer des Aufstands im Warschauer Ghetto einen Kranz nieder, verharrte eine halbe Minute im Kniefall. Eine weltweit vielbeachtete Geste.06.12.2020 | 3:03 min
    Und heute 55 Jahre später? Müssen wir noch immer mehr Demokratie wagen? Für den Sozialwissenschaftler Gert Pickel ist dieser Satz noch zeitgemäß, was sich allein schon im Wort "Politikverdrossenheit" ausdrückt:
    "In diesem kommt vor allem eines vor, nämlich dass die Politiker nicht transparent sind und dass die Politiker nicht mit einem reden und dass eigentlich die Bürger nicht hinreichend beteiligt werden. Und genau das sind Forderungen gewesen, die damals von Willy Brandt gestellt wurden", so Pickel.
    "ZDF-History: Die zwei Leben des Willy Brandt". Porträt Ex-Kanzler Willy Brandt. Das Bild entstand 1991, ein Jahr vor Brandts Tod.
    "Wir wollen mehr Demokratie wagen." - Prof. Gert Pickel von der Uni Leipzig spricht darüber, welche Bedeutung Willy Brandts berühmter Satz 55 Jahre danach für die Gesellschaft hat.25.10.2024 | 6:02 min

    "Kluft zwischen meist älteren Politikern und junger Generation"

    Mangelnde Transparenz und Beteiligung - diese Beobachtung machen auch Schülerinnen und Schüler am Domgymnasium Magdeburg, im Geschichtskurs Stufe 12. "Das ist ja sehr typisch für Politiker, dass sie gar nicht zum Punkt kommen", findet etwa Philipp Riechert. "Oder zum Beispiel wenn irgendein Problem angesprochen wird, dass sie dann (...) einfach sagen: Nö, das ist nicht so."
    Mit Blick darauf, dass Brandt die Jugend in ihrer Aufbruchstimmung bestärken wollte, sagt Johannes Richter, dass seine Generation stärker von der Politik abgeholt werden müsste:

    Persönlich finde ich, dass es eine Kluft zwischen den meist älteren Politikern gibt und der jungen Generation.

    Johannes Richter, Schüler

    Kinder im Stuhlkreis
    In der Kita "Martini" lernen die Kleinsten schon, was Mitbestimmung und Demokratie ist - auf spielerische Weise.28.08.2024 | 1:11 min
    Willy Brandt wollte mit seiner Rede auch zu mehr Mitverantwortung ermutigen - und räumte dabei ein, dass das kein leichter Weg ist: "Solche demokratische Ordnung braucht außerordentliche Geduld im Zuhören und außerordentliche Anstrengung, sich gegenseitig zu verstehen."

    Pickel: Beteiligung junger Leute auch ernst nehmen

    Miteinander reden - gern auch kontrovers -, gut zuhören, versuchen, den anderen zu verstehen. In der heutigen Zeit, in der viele in ihrer "Blase" bleiben, scheint das immer schwerer zu werden. Wie wichtig das Einbeziehen der Bürger ist, merke man gerade am Demokratieverständnis, erläutert Gert Pickel:

    In einer Umfrage der Leipziger Autoritarismus-Studie wurde mal gefragt, was halten Sie von Kompromissen? Mehr als ein Drittel der Befragten sagten, das ist Verrat an den eigenen Prinzipien.

    Gert Pickel, Sozialwissenschaftler

    Mitglieder des Europäischen Jugendparlaments in Hamburg
    Das europäische Jugendparlament in Hamburg ist ein Verein von jungen Menschen für junge Menschen. Die ehrenamtlichen Mitglieder organisieren Debatten, wecken politisches Interesse und ermöglichen so Teilhabe.24.04.2024 | 1:48 min
    "Da fast alle Politik aus Kompromissen besteht, ist das natürlich ein durchaus problematisches Setup", resümiert Pickel. Sein Vorschlag: Demokratie müsste so früh wie möglich gelernt werden. Die Jugendparlamente seien ein gutes Beispiel. Allerdings müssten, so Pickel, deren Entscheidung dann auch ernst genommen werden:
    "Häufig wird aus diesen Jugendparlamenten berichtet, wir haben da lange zusammengesessen und diskutiert und ein paar Ideen entwickelt. Und dann hat der Bürgermeister gesagt, ist ja alles sehr nett, aber ich habe jetzt gerade kein Geld und die Autobahn ist wichtiger."

    Meyer: Demokratie muss "immer neu erkämpft werden"

    Und mit Bürgerräten zu einzelnen Themen könnte die Gesellschaft durchaus ein Mehr an Demokratie wagen. Kristina Meyer vermutet, dass sich die Gesellschaft einfach daran gewöhnt hat, in einer Demokratie zu leben, und viele daher vergessen haben, dass sie "immer wieder neu erkämpft werden muss und nur weiterleben und sich weiter entwickeln kann, wenn sie von möglichst vielen Menschen in vielen Lebensbereichen getragen wird."
    Und so hat für sie Willy Brandts Versprechen für mehr Transparenz seitens der Politik nichts an Aktualität verloren, wie auch sein Appell an die Bürger, Verantwortung für unsere Demokratie mit zu übernehmen.
    Annette Pöschel ist Redakteurin im ZDF-Landesstudio Sachsen-Anhalt.
    Berlin: Mitglieder des Bürgerrats "Ernährung im Wandel" stehen für ein Gruppenfoto zusammen, bevor dessen erarbeitete Prioritätsliste für ihre Empfehlungen vorgestellt wird.
    Auch Bürgerräte sind Teil der Demokratie. Der Bürgerrat "Ernährung im Wandel" hat Bundestagspräsidentin Bas (SPD) am Sonntag neun Empfehlungen vorgestellt.14.01.2024 | 0:24 min

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