Interview
Landrat verlässt SPD:Zu viel "Gesinnungspolitik", Herr Kerth?
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Der Landrat von Vorpommern-Rügen, Stefan Kerth, ist nach über 20 Jahren aus der SPD ausgetreten. Grund sei die aktuelle Asyl- und Migrationspolitik. Er wolle aber Landrat bleiben.
Aus der SPD ausgetreten: Landrat Stefan Kerth
Quelle: dpa
Stefan Kerth ist Landrat von Vorpommern-Rügen, dem nordöstlichsten Landkreis Deutschlands. Der langjährige Politiker der SPD hat jetzt mit seiner Partei gebrochen. Er wirft seinen ehemaligen Parteifreunden vor, bei der Migrations- und Asylpolitik "abgehoben und wirklichkeitsfremd" zu agieren. Und er erklärt, warum Ostdeutsche bei diesem Thema besonders sensibel sind.
ZDFheute: Sie haben ihren Austritt aus der SPD erklärt. Warum?
Stefan Kerth: Der wichtigste Grund war, dass immer stärker spürbar wird, dass man diese Unzufriedenheit in der Bevölkerung nicht sieht, dass man weiter einen gesinnungspolitischen Kurs verfolgt.
ZDFheute: Sie haben der SPD in ihrer Austrittserklärung vorgeworfen, sie stelle "Gesinnungspolitik über Verantwortungspolitik". Was meinen Sie damit?
Kerth: Gesinnungspolitik bedeutet, dass man eine gute Idee hat, dass die praktischen Auswirkungen nachher im Realen aber mitunter so fatal sind, dass das, was man eigentlich Gutes erreichen will, nicht erreicht wird. Oder im Gegenteil: sogar ein Schaden herbeigeführt wird. Da sehe ich seit Jahren die Tendenz zu einer Strömung in der SPD, die so unterwegs ist. Und die führt zu schlechten Entscheidungen.
ZDFheute: Welche Entscheidungen meinen sie?
Kerth: Zum Beispiel wie man mit der Migrations- und Flüchtlingsthematik umgeht. Wie man mit Sicherheitsorganen und Rettern umgeht. Und dass man in Zeiten, in denen wir große Probleme haben, unseren Arbeitsmarkt mit Arbeitskräften zu versorgen, ohne Not durch das Bürgergeld künstlichen Mangel erzeugt. Wir befördern damit die Idee eines anstrengungslosen Lebens.
ZDFheute: Sie sind ja Landrat in einem Landkreis, der im bundesweiten Vergleich einen der niedrigsten Anteile an Menschen mit Migrationshintergrund hat. Besonders Ostdeutsche sehen in der Asylpolitik das größte Problem. Wie erklären Sie sich das?
Kerth: Ich finde das gar nicht so sehr widersprüchlich. In den alten Bundesländern hat man durch eine viel früher erfolgte Einwanderung auch sehr viel erfolgreiche Integration gesehen und hat so auch gelernt, dass sich Menschen aus anderen Ländern auch in die Sozialsysteme, in die Arbeit eingebracht haben und so Teil der Gesellschaft geworden sind. Da gibt es durchaus auch eine Tendenz, dass sich dort Parallelgesellschaften entwickelt haben. Aber es gibt eben auch viele, viele gute Beispiele.
Die Zuwanderung, die seit einigen Jahren stattfindet, mündet ja nicht wie damals direkt in den Arbeitsmarkt. Jetzt ist es so, dass die Zuwanderung eben aus der Flucht heraus erfolgt und deswegen einfach auch die Leistung für das aufnehmende Land schlicht und einfach nicht da ist. Diese andere Seite der Zuwanderung wurde hier nicht so erlebt.
Saskia Esken (SPD-Parteivorsitzende) u.a. zur Migrationspolitik und zum Fünf-Punkte-Plan der CDU gegen illegale Migration.02.10.2023 | 5:54 min
ZDFheute: Sie haben gesagt, dass sich viele Ostdeutsche erinnert fühlen an die Endphase der DDR. Die ist ja verbunden mit Begriffen wie friedliche Revolution oder Regimewechsel. Steht uns das bevor?
Kerth: Nein, ausdrücklich nicht. Ich meine damit, das Gefühl einer ziemlichen Abgehobenheit von den Leuten, die oben Politik machen und nicht sehen, was unten los ist. Und vor allem das Gefühl, dass es tabuisierte Themen gibt, über die man lieber nicht redet, weil man sonst möglicherweise sozial geächtet ist.
ZDFheute: Sie kritisieren den Umgang der SPD mit der AfD. Was läuft da schief?
Kerth: Man hätte bestimmte Themen viel früher ansprechen müssen. Dass Migration unkontrolliert erfolgt und wir mitunter auch gar nicht wissen, wer da zu uns kommt. Hätte man sich diesen Themen früher und leidenschaftlicher angenommen, hätte es gar keine Hinwendung zur AfD gegeben. Klar ist, dass allein der Weg des Zusammenstehens gegen rechten Populismus nicht geholfen hat, auch nicht in den alten Bundesländern.
ZDFheute: Sehen Sie Ihre Zukunft in einer anderen Partei oder sagen Sie, dass keine Partei die Probleme lösen kann?
Kerth: Demokratie funktioniert nur mit allen Organen, mit Lunge, Herz, Leber, Niere und Gehirn. Wir brauchen in der Demokratie Strukturen. Deshalb habe ich eine Sehnsucht nach einem Land ohne Parteien ausdrücklich gar nicht. Zu mir konkret: ich habe nicht vor, in eine Partei reinzugehen. Ganz ausschließen will ich das aber auch nicht. Das Leben ist ja noch lang.
Das Interview führte Bernd Mosebach.
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