Diesel-Abgasskandal:BGH erleichtert Weg zum Schadenersatz
von Jan Henrich
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Haften Fahrzeughersteller für Abschalteinrichtungen bei der Abgasreinigung? Der Bundesgerichtshof hat eine Entscheidung über sogenannte Thermofenster bei Dieselmotoren getroffen.
Autohersteller müssen grundsätzlich Schadenersatz für Dieselautos mit Thermofenster-Technik zahlen, wenn diese nur in einem kleinen Temperaturbereich Abgase ordnungsgemäß von Schadstoffen reinigt. Dieses Grundsatzurteil verkündete der Bundesgerichtshof (BGH) am Montag in Karlsruhe. Geklagt hatten Autobesitzer gegen Audi, Mercedes-Benz und Volkswagen.
Die Kläger können einen Teil des Kaufpreises zurückerhalten, sofern in den Motoren ihrer Autos eine unzulässige Abschalteinrichtung verbaut ist.
Worum geht es bei dem aktuellen Verfahren?
Die Richterinnen und Richter entschieden in drei ausgewählten Verfahren, bei denen Fahrzeuge der Hersteller VW, Audi und Mercedes-Benz betroffen sind. Es ging um die Frage, ob und in welcher Höhe Diesel-Käufer Schadensersatz verlangen können, wenn in ihren Fahrzeugen temperaturgesteuerte Abschalteinrichtungen für die Abgasreinigung verbaut sind. Diese sogenannten Thermofenster sind häufig illegal.
Bislang hatten deutsche Gerichte Ansprüche für Kunden meist abgelehnt. Es galt: Schadensersatz gibt es nur, wenn die Autobauer vorsätzlich sittenwidrig gehandelt haben. Das war bei den Thermofenstern meist nicht nachzuweisen.
Allerdings hatte der Europäische Gerichtshof im März 2023 in einem verbraucherfreundlichen Urteil die Vorgabe gemacht: Auch wenn Autobauer nur fahrlässig gehandelt haben, stehen den Dieselkäufern Ansprüche zu. Der Bundesgerichtshof hat nun geklärt, was das im Einzelfall für die Kunden bedeutet.
Was gilt nun?
In allen drei Fällen muss das jeweilige Oberlandesgericht, das die Klage zurückgewiesen hatte, nun neu verhandeln. Der Autokäufer muss jeweils beweisen, dass eine solche Abschalteinrichtung vorliegt. Der Hersteller muss beweisen, dass sie ausnahmsweise zulässig ist.
Wenn das jeweilige Gericht feststellt, dass in dem Auto eine unzulässige Abschalteinrichtung verbaut ist, muss der Hersteller beweisen, dass er weder vorsätzlich noch fahrlässig gehandelt hat.
Wenn der Hersteller aber haftet, soll er eine Entschädigung zahlen. Der ganze Kaufpreis soll nicht rückerstattet werden, sondern nur die Wertminderung. Ohne Expertengutachten solle eine Summe zwischen fünf und 15 Prozent des Kaufpreises gezahlt werden, erläuterte Richterin Menges. Davon müssten aber Vorteile abgezogen werden. Dazu kann etwa die bisherige Nutzung des Autos gehören oder ein Softwareupdate.
Um welche Modelle ging es?
In den jetzt entschiedenen Fällen geht es um den VW-Motor des Typs EA 288, der in einem VW Passat des Baujahres 2016 eingebaut war. Bei Mercedes fordert ein Käufer Schadenersatz für eine 2017 erworbene C-Klasse mit dem Motor OM 651. Der Audi-Kunde klagte zu einem SQ5 mit dem Motor der Baureihe EA 896Gen2BiT, den er 2018 angeschafft hatte.
Wie viele Fälle gibt es insgesamt?
Die Entscheidung ist wegweisend für rund 2.100 Verfahren am BGH selbst und schätzungsweise fast 100.000 anhängige Klagen an unteren Instanzen. Neue Klagen könnten hinzukommen. Für die deutschen Rechtsschutzversicherer sind Prozesse aller Facetten im Diesel-Skandal der teuerste Schaden ihrer Geschichte, wie der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) erklärte.
Fast 420.000 Kunden nutzten demnach seit 2015 für Diesel-Klagen ihre Rechtsschutzversicherungen. Diese hätten mittlerweile 1,52 Milliarden Euro an Anwalts-, Gerichts- und Gutachterkosten beglichen. Der Streitwert belaufe sich auf 26.100 Euro pro Auto im Schnitt. Das BGH-Urteil könne Fallzahlen und Prozesskosten weiter steigen lassen, erklärte der GDV.
Was genau sind Thermofenster?
Thermofenster bezeichnet eine Technik in Dieselfahrzeugen, mit der die Abgasreinigung in bestimmten Temperaturbereichen gedrosselt oder ganz abgeschaltet wird. Die Fahrzeuge stoßen dann mehr gesundheitsschädliche Abgase aus.
Die Autobauer argumentieren, dass diese Technik notwendig sei, um den Motor in bestimmten Situationen vor Schäden zu schützen. Im Ausnahmefall ist das nach europäischem Recht auch erlaubt. Allerdings reduzieren viele Abschalteinrichtungen die Abgasreinigung aber schon bei Außentemperaturen, die in Europa üblich sind. Spätestens dann, so die Rechtsprechung, ist die Technik unzulässig.
Im Streit um das sogenannte Thermofenster in Dieselfahrzeugen hat der Europäische Gerichtshof in Luxemburg ein Urteil gefällt: Demnach senkt der EuGH die Hürden für Schadensersatz-Klagen von Diesel-Käufern bei unzulässiger Abgas-Technik.21.03.2023 | 1:40 min
Darf ich mit einem Auto mit illegaler Abschalteinrichtung noch fahren?
Ob ein Auto auf deutschen Straßen fahren darf oder nicht, hat mit der heutigen Entscheidung nichts zu tun. Es geht zunächst nur um die privatrechtlichen Ansprüche für Käufer. Aber das Thema wird an anderer Stelle diskutiert, zuständig ist das Kraftfahrtbundesamt.
Auch zu dieser Frage laufen Gerichtsverfahren, die insbesondere ältere Dieselmodelle betreffen. Hier könnten gegebenenfalls Nachrüstungen notwendig werden. Bis zur Klärung wird es voraussichtlich aber noch eine Weile dauern.
ZDF frontal deckte 2016 auf: Nicht nur VW nutzte bei Dieselautos unzulässige Abschalteinrichtungen, auch Mercedes, BMW und Renault. Können Autokäufer dafür Schadenersatz verlangen?21.03.2023 | 0:41 min
Was ist mit Dieselfahrern mit älteren Autos, die noch nicht geklagt haben?
Bei Schadensersatz-Ansprüchen dieser Art gilt in der Regel eine Verjährungsfrist von drei Jahren. Und zwar ab Ende des Jahres, ab dem man Kenntnis davon hat oder haben sollte, dass das eigene Auto vom Dieselskandal betroffen ist.
Das heißt: Viele Forderungen zu älteren Dieselfahrzeugen, die nicht schon bei den Gerichten liegen, könnten schon verjährt sein. Aber auch hier kommt es auf den Einzelfall an und darauf, welche Ansprüche geltend gemacht werden.
Was sagen die Hersteller?
Die Autobauer berufen sich bislang darauf, dass sie nicht hätten wissen können, dass die verbauten Thermofenster möglicherweise unzulässig waren. In den strittigen Fällen war die Typgenehmigung vom Kraftfahrt-Bundesamt erteilt worden.
Für Volkswagen erklärte Anwältin Martina van Wijngaarden nach dem Urteil zum konkreten Fall: "Das Kraftfahrt-Bundesamt hat hundertfach bestätigt, dass in diesem Fahrzeug keine unzulässige Abschalteinrichtung verbaut ist." Darum gehe der Konzern davon aus, dass die Klage am Ende abgewiesen werde. s
Quelle: mit Material von Reuters und AFP
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