Chile:50 Jahre Putsch: Noch immer eine offene Wunde
von Christoph Röckerath
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Verschleppt, gefoltert, ermordet: Niemand weiß, wie viele Tausend Menschen in Chile vor 50 Jahren verschwanden. Die Angehörigen und Opfer suchen weiter nach Antworten.
Es ist ein kalter, trüber Wintertag in Santiago de Chile. Wir begleiten Vilma Montoya auf den Hauptfriedhof. Normalerweise kommt sie alleine hierher, um ihren Vater zu besuchen, oder das, was offiziell von ihm geblieben ist: "Raul Gilberto Montoya, 21.7.1976" steht in schwarzen Lettern zwischen Hunderten anderen Einträgen auf dem Mahnmal für die "Desaparecidos" - die Verschwundenen, jene, die von der Junta verschleppt, gefoltert, ermordet, und irgendwo verscharrt oder ins Meer geworfen wurden. Gilberto war damals 43 Jahre alt, Vilma 20.
Die Lachfalten im Gesicht der 67-Jährigen strafen den Schmerz in ihren Augen Lügen. Vilma hat ihr ganzes Leben der Suche nach den Überresten ihres Vaters gewidmet. So wie Tausende andere Chilenen, die noch immer nach ihren Angehörigen und Antworten suchen.
Am 11. September 1973 putschte Armeegeneral Augusto Pinochet gegen die demokratisch gewählte, sozialistische Regierung von Präsident Salvador Allende. Unterstützt wurde er von westlichen Regierungen, allen voran den USA, die in der Hochphase des Kalten Krieges keinen Hehl aus ihrer Sorge machten, Chile könne zu einem zweiten Kuba werden. Auch deutsche Dienste sollen das Militärregime unterstützt haben, das bis 1990 an der Macht blieb. Tausende tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle fielen der Gewaltherrschaft zum Opfer. Quelle: ZDF
50 Jahre später ist die Zeit der Diktatur noch immer eine offene Wunde, entlang der sich die chilenische Gesellschaft spaltet. Viele der Täter aus Politik, Militär und Sicherheitsdiensten wurden nie zur Rechenschaft gezogen. Viele Schicksale, von etwa 1.500 ist die Rede, sind noch immer ungeklärt.
Vilma mit ihrem Vater Gilberto Montoya
Quelle: ZDF
Opfer wollen Aufarbeitung, Rechtspopulisten rechtfertigen den Putsch
Anlässlich des Jahrestages werden die Rufe der Angehörigen lauter, die Diktatur endlich und ehrlich aufzuarbeiten. Gleichzeitig nutzt eine erstarkende Rechte das Gedenken, um mit einer kulturkämpferischen Rhetorik die Vergangenheit für ihre Zwecke umzudeuten. "Law and Order", eine starke Hand statt vermeintlich linkem Zeitgeist - es sind ähnliche Mechanismen, derer sich Rechtspopulisten auch in anderen Ländern bedienen.
Und das verfängt: Mehr als ein Drittel der Chilenen findet jüngsten Umfragen zufolge, dass die Militärs damals "im Recht" waren. In den Straßen von Santiago begegnen uns immer wieder Graffiti, auf denen übersetzt "Danke Pinochet" steht.
40.000 Menschen im Stadionlager, viele gefoltert und ermordet
So auch in der Nähe des Nationalstadions. 40.000 Menschen waren hier zeitweise eingesperrt. Viele wurden gefoltert und ermordet. Wir treffen hier auf eine Gruppe älterer Männer und Frauen, die verhalten lächelnd Rotwein trinken und leise miteinander reden. Sie verbindet die schlimmste Zeit ihres Lebens. Es sind Überlebende des Stadion-Lagers.
Einer von ihnen ist Gonzalo Lagos, ein schlanker Mann mit freundlichem Gesicht und auffälligem Schnurrbart. Er überlegt lange, ob er mit uns über seine Erlebnisse sprechen möchte. Doch dann erzählt er. Er war 23 Jahre alt und in der sozialistischen Studentenschaft aktiv, als er von der Polizei verschleppt wurde. Zwei Monate wurde er im Stadion gefangen gehalten und immer wieder gefoltert.
Die Erinnerungen bringen den 73-Jährigen auch heute noch zum Weinen. Dass jetzt wieder eine große Gruppe von Chilenen den Putsch positiv sieht, macht ihn fassungslos.
Präsident Boric will aufklären
Chiles linksgerichteter Präsident Gabriel Boric steht vor der schwierigen Aufgabe die Aufarbeitung voranzutreiben, ohne dass es die zerbrechliche Demokratie Chiles zerreißt. Ende August kündigte er eine systematische Aufklärungskampagne an, um die Schicksale der "Desaparecidos" zu klären.
"Die Suche nach Gerechtigkeit und Wahrheit steht nicht einer glücklichen Zukunft im Wege", sagt Boric und appelliert so an die Einheit der Chilenen. Denn er weiß, dass die Aufklärung schmerzt und für erheblichen Widerstand in konservativen Kreisen sorgen dürfte.
Das gefährdet nicht nur seine Macht. Es erschwert auch den zähen Prozess der Chilenen, sich auf eine neue Verfassung zu einigen, um die aktuelle abzulösen, die noch aus der Zeit der Diktatur stammt. Der Widerstand gegen sie war eine der Triebfedern für die blutigen Unruhen, die Chile Ende 2019 erschütterten. Ein erster Entwurf für eine neue Verfassung scheiterte 2022, weil er vielen Chilenen zu weit nach links ging. Seitdem hat sich die Spaltung des Landes verstärkt.
Vilma gibt die Hoffnung auf eine Erinnerung nicht auf
Von Vilma Montoyas kleiner Wohnung bietet sich ein beeindruckender Blick auf die schneebedeckten Anden. Auf dem Tisch liegt eines der letzten Fotos, das sie gemeinsam mit ihrem Vater zeigt. Auf dem Bild lacht Vilma, beide sind schick angezogen, ihr Vater, ein kommunistischer Gewerkschafter, trägt Krawatte. Warum, weiß sie nicht mehr. Nur, dass sie damals glücklich war, bis ihr Vater eines Morgens auf dem Weg zur Arbeit das Haus verließ und nie mehr wieder kam. Keine Spur, kein Grab, kein Abschluss.
"Solange ich das nicht habe" - Vilma macht eine Pause, überlegt und sagt dann: "Ich werde es irgendwo finden!"
Christoph Röckerath ist ZDF-Südamerika-Korrespondent