von Christoph Schneider, Moritz Flocke und Maren Reiß
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Kann man für dieselbe Tat mehrfach vor Gericht gestellt werden - auch nach einem Freispruch? Nein, sagt das Bundesverfassungsgericht. Auch nicht, wenn belastende Beweise vorliegen.
Es ist der Fall von Frederike von Möhlmann, der noch immer die Gemüter bewegt. 1981 wird die 17-Jährige auf dem Heimweg von einer Chorprobe nahe Celle als Anhalterin mitgenommen und anschließend vergewaltigt und erstochen. Tatortspuren führen zu dem damals 22-jährigen Ismet H. In einem ersten Verfahren wird er verurteilt, doch der Bundesgerichtshof hebt diese Verurteilung auf – die Beweise sind zu lückenhaft.
In einem zweiten Prozess wird Ismet H. 1983 freigesprochen – ebenfalls aus Mangel an Beweisen. Vater Hans von Möhlmann lässt nicht locker, fragt immer wieder bei den Ermittlern nach. Dank besserer DNA-Technik konnten 2012 gesicherte Faserspuren erneut untersucht werden. Die führen zum einst freigesprochenen Ismet H.
Bundesverfassungsgericht bestätigt: Grundgesetz schließt neuen Prozess im selben Fall aus
Doch ein neuer Prozess in diesem Fall geht eigentlich nicht. Im Grundgesetz gibt es den Artikel 103, Absatz 3, der regelt:
Es gilt der Grundsatz: Der Staat hat einen Versuch, einen Straftäter zu überführen. Gelingt das nicht und steht am Ende ein rechtskräftiger Freispruch, dann steht dieser ein für allemal.
Doch was ist, wenn neue Beweise auftreten, sich z.B. Ermittlungsmethoden verbessern? Kann, ja muss, dann nicht der Staat erneut einen auch schon rechtskräftig Freigesprochenen wieder anklagen können?
Die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD entschied sich 2021 für eine Gesetzesänderung, die bei unverjährbaren Delikten wie zum Beispiel Mord eine Wiederaufnahme auch zu Ungunsten eines Angeklagten ermöglichte.
Anwalt: Risiko des "falschen Freispruchs" ausschließen
Diese war Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde, die im Mai verhandelt wurde. Der einst Freigesprochene im Fall Frederike – weil die Beweise Anfang der 1980er Jahre nicht ausreichten – sah sich aufgrund der Gesetzesänderung neuer Strafverfolgung ausgesetzt und legte Verfassungsbeschwerde ein.
Für ihn erklärte sein Anwalt, Johann Schwenn, in der mündlichen Verhandlung, dass er die Regelung für verfassungswidrig halte. Die Menschen sollten nicht mit dem Risiko eines "falschen Freispruchs" leben müssen.
Ungelöste Kriminalfälle, auch "Cold Cases" genannt, faszinieren. Wo Ermittler im Dunkeln tappen, Zeugen fehlen oder Spuren in die Irre führen, kommen Verbrecher ungestraft davon.07.05.2023 | 43:16 min
Schwester von Frederike: "Schmerz ist nicht weniger geworden"
Persönlich wurde es in der Verhandlung, als der langjährige Anwalt des Vaters der getöteten Frederike, Wolfram Schädler, persönliche Worte seiner Mandantin, die ältere Schwester von Frederike, an das Gericht richtete: "Der tiefe Schmerz ist nicht weniger geworden", ließ sie die Richterinnen und Richter wissen. Und:
Vater Hans von Möhlmann war es, der die Gesetzesänderung mit einer Petition im Internet über Jahre vorantrieb. Im Sommer 2022 verstarb er. Für ihn kämpfte Frederikes ältere Schwester mit Anwalt Schädler vor Gericht weiter. Nach dem Urteil erklärt er, dass es kein Tag der Gerechtigkeit für die Familie Möhlmann sei. Es sei zwar das Ende des Gerichtsverfahrens, aber nicht das Ende seiner Ermittlungen. Er wolle weitere Anstrengungen unternehmen, um trotzdem Gerechtigkeit zu erreichen.
Die Vorsitzende des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts, Vizepräsidentin Doris König, erklärt in der Urteilsverkündung, dass das Grundgesetz ein Mehrfachverfolgungsverbot enthalte. Das bedeutet: Wer einmal freigesprochen ist, bleibt es auch.
Bei manchen Verbrechen stehen die Ermittler zunächst vor dem Nichts. Es zählt zu den Sternstunden kriminalistischer Arbeit, wenn es ihnen dann doch noch gelingt, den Fall aufzuklären.03.05.2023 | 43:58 min
Seit heute ist die Wiederaufnahmeregelung verfassungswidrig und nichtig. Der ehemalige DAV-Vorsitzende Ulrich Schellenberg zeigt sich zufrieden. Das sei eine klare Entscheidung. Damit sei es dem Bundesverfassungsgericht gelungen, der Rechtssicherheit Vorrang zu geben. Der Einzelfall Möhlmann dürfe nicht dazu führen, ein wesentliches Prinzip des Grundgesetzes zu übergehen.
Fall Frederike von Möhlmann schreibt Rechtsgeschichte
Michael Kubiciel, ein Vertreter der Fraktionen von Union und SPD ist zwar anderer Meinung. Dennoch zeigt er sich zufrieden, dass sich das Gericht umfassend zu der Fragestellung geäußert hat. Nach dem Urteil sagte er, dass nun wenigstens dem unklaren Gehalt des Art. 103 Abs. 3 GG Abhilfe geschaffen wurde.
Gerechtigkeit oder Rechtssicherheit – die Waage der Justitia hat sich am Vormittag zugunsten der Rechtssicherheit eingependelt. Der Fall Frederike von Möhlmann schreibt heute deutsche Rechtsgeschichte.
Die Autoren arbeiten in der Fachredaktion Recht & Justiz des ZDF.