Weiblich, arbeitslos, Frührente:Menschen mit Behinderung finden kaum Arbeit
von Andrea Schuler
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Menschen mit Behinderung sind oft überdurchschnittlich gut qualifiziert, finden aber keine Beschäftigung. Manche müssen gegen ihren Willen in Frührente. Eine Betroffene berichtet.
Wegen ihrer Schwerbehinderung findet Ivonne Müller trotz Ausbildung und Studium keine Arbeitsstelle. Wie die 42-Jährige um einen Job kämpft.30.05.2023 | 5:04 min
Ivonne Müller ist gelernte Bürofachhelferin und staatlich geprüfte Betriebswirtin. Die 42-Jährige ist seit ihrer Geburt schwerbehindert, hat in Armen und Beinen eine Spastik sowie eine Wirbelsäulenverkrümmung.
Sie möchte arbeiten, um etwas zum Familieneinkommen beizutragen und um soziale Kontakte außerhalb der eigenen vier Wände zu haben. Doch sie findet keinen Job.
Menschen mit Behinderung haben es schwer, außerhalb von Werkstätten einen Arbeitsplatz zu finden. Bieten nun Fachkräftemangel und Digitalisierung Chancen auf mehr Inklusion?31.05.2022 | 28:33 min
2.000 Bewerbungen, 2.000 Absagen
Mehr als 2.000 Bewerbungen hat Ivonne Müller nach ihrem Studium verschickt. Viele Betriebe antworteten darauf gar nicht erst. Von anderen gab es Standardabsagen. Manche Jobs setzen einen Führerschein voraus. Den könnte sie zwar machen, aber die Kosten für den Umbau eines Autos sind enorm hoch.
Mit 27 Jahren wurde ihr vom Jobcenter völlig unerwartet und unvorbereitet der Frühverrentungsantrag zur Unterschrift vorgelegt. Wegen ihrer Schwerbehinderung gelte sie als unvermittelbar, so das Argument.
Betriebe haben Mindestvorgaben für Angestellte mit Schwerbehinderung
Ivonne Müller ist kein Einzelfall. Obwohl private und öffentliche Arbeitgeber eigentlich verpflichtet sind, Menschen mit Schwerbehinderung einzustellen. Je nach Betriebsgröße gibt es verbindliche Mindestvorgaben. Bei Neueinstellungen sollen sie zudem prüfen, ob Menschen mit Behinderungen für die Stelle infrage kommen.
Die Beschäftigungspflicht für Menschen mit Behinderung ist in § 154 des SGB IX (Sozialgesetzbuches) festgelegt. Betriebe mit mindestens 20, aber weniger als 40 Arbeitsplätzen müssen mindestens einen Menschen mit Schwerbehinderung beschäftigen, Betriebe mit 40 bis unter 60 Arbeitsplätzen müssen mindestens zwei Menschen mit Schwerbehinderung beschäftigen.
Auch Teilzeit- oder Heimarbeitsplätze können angerechnet werden. Firmen, die diese Pflicht nicht erfüllen, müssen eine monatliche Ausgleichsabgabe entrichten. Diese Abgabe wird auf Grundlage der jahresdurchschnittlichen Beschäftigungsquote ermittelt.
Haben weniger als zwei Prozent der Beschäftigten eines Unternehmens keine Schwerbehinderung, sind zum Beispiel 360 Euro fällig.
Quelle: Bundesagentur für Arbeit
Unternehmen ziehen sich aus der Verantwortung
Statt die Pflichtquote zu erfüllen, zahlen viel Unternehmen lieber die Ausgleichsabgabe, beobachten die Arbeitsagenturen. Die Gründe sind vielfältig: Zum einen sind da Berührungsängste, zum anderen sind Arbeitsplätze nicht ausgestattet für Menschen mit Behinderung. Fehlende Barrierefreiheit darf kein Grund sein, Bewerbende mit Behinderung abzulehnen, sagt Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbands VdK Deutschland.
Von fast zehn Millionen Menschen mit Behinderung in Deutschland sind fünf Prozent von Geburt an behindert. Meist entstehen Behinderungen durch Krankheiten. Behindert kann also jeder werden.06.02.2020 | 58:10 min
Frauen doppelt von Diskriminierung betroffen
Vor vier Jahren wurde Ivonne Müllers Sohn geboren. Damit haben sich ihre Chancen auf einen Job weiter verschlechtert. Frauen mit Behinderung bilden das Schlusslicht unter den Arbeitssuchenden. Eine 2021 veröffentlichte Studie fand heraus: Behinderte Frauen schneiden am schlechtesten ab bei Lohn sowie Vollzeit- und Führungspositionen und sind durch Haushalts- und Familienaufgaben besonders belastet.
Die von Aktion Mensch in Auftrag gegebene Studie "Situation von Frauen mit Schwerbehinderung am Arbeitsmarkt" arbeitet erstmals einen systematischen Vergleich von Frauen mit und ohne Schwerbehinderung im Verhältnis zu Männern mit und ohne Schwerbehinderung auf. Somit werden genderbezogene Unterschiede mit Unterschieden zwischen Menschen mit und ohne Behinderung hinsichtlich ihres Erwerbslebens miteinander verschränkt.
Bundesweit wurden rund 2.000 Repräsentativbefragungen online und auch persönlich durchgeführt sowie zusätzlich elf telefonische Tiefeninterviews mit erwerbstätigen Frauen mit Schwerbehinderung. Das Ergebnis: Generell nehmen Menschen mit Schwerbehinderung deutlich seltener am Erwerbsleben teil als Menschen ohne Schwerbehinderung, und Frauen mit Schwerbehinderung sind noch einmal weniger gut in den Arbeitsmarkt integriert.
Frauen mit Schwerbehinderung erzielen häufig die niedrigsten Einkommen im Gruppenvergleich (Männer vs. Frauen, mit vs. ohne Schwerbehinderung). Im Durchschnitt verdienen weibliche Erwerbstätige mit Behinderung 667 Euro netto weniger pro Monat als ihre männlichen Pendants.
Unternehmen können von diversen Belegschaften profitieren
Dabei können Unternehmen von einer diversen Belegschaft, also Älteren und Jüngeren, Männern und Frauen, Menschen mit und ohne Behinderungen durchaus profitieren, glauben Expert*innen wie Verena Bentele. So würden mehr Blickwinkel in die Arbeit eingebracht werden.
Ivonne Müller will die Hoffnung auf eine Arbeitsstelle nicht ganz aufgeben. Sie sucht weiter. Ob ihre unfreiwillige Frühverrentung aus dem Jahr 2008 wieder rückgängig gemacht werden kann, will sie mit Hilfe eines Rechtsbeistands klären. Dafür muss sie aber erst einen geeigneten Job finden.
In "einfach Mensch" erzählen Menschen mit Behinderung und sozial Benachteiligte selbst. Die Reportage entsteht in Zusammenarbeit mit der "Aktion Mensch".