von Arta Ramadani
Man neigt schnell dazu, diesen Menschen zu sagen: „Stell Dich doch nicht so an, ist doch alles nicht so schlimm, leg Dir einfach ein dickes Fell zu.“ Dabei können oftmals die Betroffen nichts dafür, dass sie extrem auf alles reagieren, denn sie sind hochsensibel.
Hochsensibilität ist keine Krankheit, in der Wissenschaft spricht man von einem Wesenszug bzw. Temperament. 15 bis 20 Prozent der Menschen sollen hochsensibel sein, sehr viele wissen nichts davon. Hochsensible sehen, hören, fühlen, schmecken, riechen ohne Filter. Oft nehmen sie die Launen und Stimmungen der anderen auf. Sie brauchen auch mehr Ruhe, weil sie sehr viele Reize verarbeiten müssen.
„Gefühle anderer beeinträchtigen mich stark“
Der 65-Jährige Eberhard Stammberger hat seine Hochsensibilität erst vor fünf Jahren erkannt. Für ihn war das ein Aha-Effekt: „Es war eine Befreiung, es war wie durch eine Tür zu gehen und den Schlüssel gefunden zu haben“, so Stammberger. „Gefühle anderer Menschen beeinträchtigen mich sehr stark. Früher dachte ich, es liegt an mir, dass einige Leute so komisch sind. Heute kann ich mich besser abgrenzen. Leute, die negativ, unhöflich sind meide ich, denn diese Menschen kosten mich sehr viel Energie. Aber auch Fernsehen und Filme mit schnellen Bildfolgen machen mich sehr unruhig, es macht mich sehr stark betroffen, ich kann meist nicht danach schlafen, ich vermeide es zum Beispiel, fernzusehen“.
Zuvor hatte Erhard Stammberger sein Leben lang gefragt, was mit ihm nicht stimmt, warum ist er so anders, als andere. Er sah und fühlte mehr als ihm lieb war: „Das ist ein Gefühl, als ob man auf der Suche nach sich selbst ist. Man steht wie vor einem Rätsel, man weiß nicht warum man so ist. Ich habe mich oft gefragt, warum ich auf Dinge anders als andere reagiere, warum ich nicht gelassener damit umgehen kann, so wie andere damit umgehen. Schlimm war Kritik oder Respektlosigkeit im Job. Andere stecken sowas gut weg, ich habe danach Tage gegrübelt“. Er gekündigt, weil er es nicht ausgehalten hat.
Heute ist er als selbstständiger Unternehmensberater erfolgreich und zufrieden. An sein früheres Berufsleben erinnert er sich nicht so gerne: „Das waren sehr unangenehme Gefühle, Begebenheiten, die lange nachgeklungen sind, die eine innere Erregung erzeugt haben, die meine Leistungsfähigkeit eingeschränkt haben, die teilweise zu psychosomatischen Folgen geführt haben. Dieser Wettbewerb, die Hackordnung in der Firma, das hat mich alles fertig gemacht, ich wusste gar nicht wie ich damit umgehen soll“, sagt Stammberger. Inzwischen hat er gelernt sich abzugrenzen, sich besser zu schützen, bestimmte Situationen zu vermeiden.
Zusammenhänge mit verschiedenen Krankheiten
Tatsächlich sagt man Hochsensiblen nach, sie seien tendenziell keine Wettbewerbstypen. Sie sollen besonders kreativ, innovativ, empathisch sein. Das Nervensystem der Hochsensiblen funktioniert anders, als bei „normal“ Sensiblen. Bei Hochsensiblen liegt eine stark ausgeprägte Sensibilität im Gehirn vor. Das hat auch die Psychologin und Wissenschaftlerin Sandra Konrad erkannt. „Es lässt sich nicht bestreiten, dass es Menschen gibt, die anders und intensiver fühlen. Menschen, die extrem auf Reize reagieren. Das haben auch MRT-Studien gezeigt, dass bestimmte Menschen in bestimmten Arealen stärker und anders reagieren. Allerdings gibt es in der Psychologie noch andere Konzepte, mit denen man die Hochsensibilität erklären könnte“, so Sandra Konrad.
Sie erforscht die Hochsensiblen an der Helmut Schmidt Universität in Hamburg. Mit ihrer Arbeit steht sie noch ganz am Anfang. Bisher hat sie es geschafft 3000 Probanden zu befragen, ihre Ergebnisse sind allerdings nicht eindeutig. Daher ist sie sehr kritisch: „Wir haben unter anderem festgestellt, dass es Zusammenhänge zur psychischen Symptombelastung gibt, zu Depressionen, Angststörungen. Hochsensible sind meist introvertiert, sie sind ängstlicher, sie stehen neuen Erfahrungen offen gegenüber. Es gibt aber auch Zusammenhänge zu ADHS und Hyperaktivität.“
Markt boomt
Erhard Stammberger hat durch Bücher und Tests im Internet seine Hochsensibilität festgestellt. Ein ganz bekannter und anerkannter Test kommt von der US-Psychologin Dr. Elaine Aron. Sie hat den Begriff „hochsensibel“ entdeckt. Diesen Test hat Sandra Konrad überarbeitet und einen wissenschaftlich fundierten Test daraus gemacht, der nun für den deutschen Sprachraum gültig ist. Sandra Konrad forscht weiter, sie möchte weitere Erkenntnisse zum Thema gewinnen.
Eines ist aber jetzt schon klar. Der Hochsensiblen-Markt boomt. Es gibt viele Bücher und Coaches, die damit Geld verdienen wollen. Verbraucher sollten ganz besonders aufpassen, wem sie vertrauen, so Konrad. „Im Prinzip kann man sich davon nichts kaufen. Man muss sich eine einfache Frage stellen: Komme ich gut damit klar, hindert es mich am Leben? Wenn Menschen ständig in der Überreizung leben, daraus eine Angststörung oder Depression entwickeln, oder generell damit nicht so klar kommen, würde ich ihnen empfehlen, zum Arzt oder Psychotherapeuten zu gehen“, sagt Sandra Konrad.