Verändert Corona unsere Gesellschaft?

• Andreas Reckwitz

  

  Andreas Reckwitz, geboren 1970 in Witten, ist Professor für Allgemeine Soziologie und Kulturwissenschaftler an der Humboldt Universität.
  
  Reckwitz studierte bis 1995 in Bonn, Hamburg und Cambridge. Nach seiner Habilitation in Hamburg übernahm er 2005 eine Professur in Konstanz. 2010 wechselte er für 10 Jahre auf den Lehrstuhl für Kultursoziologie an die Europa-Universität Viadrina.
  
  Besonders mit seinem 2017 veröffentlichen Buch „Die Gesellschaft der Singularitäten“ und dem aktuellen Band „Das Ende der Illusionen“ (2019) machte er nicht nur in der Fachwelt auf sich aufmerksam, sondern wird auch von aktiven Größen der deutschen Politik gelesen, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel oder SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil.
  
  Andreas Reckwitz wurde 2017 mit dem Bayerischen Buchpreis ausgezeichnet, 2018 für den Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse nominiert und erhielt 2019 den hochdotierten Gottfried Wilhelm Leibnitz-Preis.

  Bildquelle: Juliane Eirich

Literaturtipps von Richard David Precht

• Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst

  Depression und Gesellschaft in der Gegenwart
  Campus Bibliothek 2015
  
  Der französische Soziologe Alain Ehrenberg legt in seinem vieldiskutierten Buch dar, wie unsere hochkomplexe Gesellschaft durch den ständigen Druck der Individualisierung in eine Art chronischen Entzündungszustand geraten ist. Die allgegenwärtige Erwartung von eigenverantwortlicher und authentischer Selbstverwirklichung habe sich von einem gefeierten Bedürfnis in eine bedrohliche Überforderung verwandelt, die verantwortlich sei für die wachsende Ausbreitung von Depressionen. Ehrenberg macht den rasanten Anstieg an Depressionen zu einem gesellschaftlichen Phänomen, zu einer "Krankheit der Freiheit", der mancher eben nicht gewachsen sei.

• Ulrich Beck: Risikogesellschaft

  Auf dem Weg in eine andere Moderne
  Suhrkamp 2015
  
  Das vielbeachtete Buch des hochgeschätzten Soziologen wurde 1986 zwar vor dem Hintergrund der Tschernobyl-Katastrophe geschrieben, doch es wirkt heute auch wie eine Vorausahnung der Corona-Krise. Die Gefahren der Menschheit, diagnostizierte Beck, entstehen in der modernen Gesellschaft immer weniger durch Kriege oder Naturkatastrophen, sondern durch die Industriegesellschaft selbst. Die wachsende Individualisierung hat den Schutzraum von Klasse, Familie oder Berufsstand aufgeweicht. Als Einzelner fühlt man sich verstärkt menschengemachten Risiken ausgesetzt. Die nunmehr oft unsichtbaren und kausal nur schwer zu fassenden Bedrohungen zielen nicht mehr allein auf bestimmte Minderheiten, sondern jeder ist betroffen. Und schon in den 1980er Jahren warnte Beck vor dem Kontrollverlust der Politik.

• Andreas Reckwitz: Das Ende der Illusionen

  Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne
  Suhrkamp 2019
  
  In seinem aktuellen Buch attestiert unser Gast Andreas Reckwitz das Ende klarer Leitbegriffe für die Zukunft. Das Vertrauen in die selbstregulierende Kraft wirtschaftlicher und kultureller Systeme sei zunehmend verloren gegangen. Lange Zeit hatte man sich in der Gewissheit des Fortschritts und der Demokratie eingerichtet. Vorgänge wie der Brexit, die Wahl Donald Trumps, die Migration, die Klimakrise (oder eben die aktuelle Pandemie, könnte man hinzufügen) haben die Illusion vom "Ende der Geschichte" ins Wanken gebracht. Reckwitz empfiehlt daher, die regulierende Macht des Staates neu zu beleben. Dabei geht es dem Soziologen weniger um provokante Thesen oder historische Vereinfachungen, sondern um eine Sensibilisierung für die kulturellen Eigenheiten und Mechanismen unserer postindustriellen Gesellschaft.