Im Frühjahr 2020 standen sie plötzlich im Fokus: Beschäftigte in so genannten systemrelevanten Berufen und ihre Arbeitsbedingungen.
Während ich selbst im Homeoffice recherchierte, Meetings und Filmschnitte per Telefon stattfanden, gingen Verkäufer*innen, Pflegekräfte und Sozialarbeiter*innen weiterhin zur Arbeit und setzten sich täglich einem, zu dem Zeitpunkt noch völlig unbekannten, Risiko aus. Liefer- und Versorgungsengpässe erschienen plötzlich real und Beschäftigte in Berufen, die normalerweise wenig Aufmerksamkeit und Anerkennung erhalten, wurden plötzlich zu unentbehrlichen Held*innen des Alltags.
Dann kam der Sommer, die Infektionszahlen sanken, für kurze Zeit kehrte so etwas wie Normalität zurück. Und ich fragte mich: Was bleibt vom plötzlichen Interesse an den systemrelevanten Beschäftigten? Was kommt nach dem Applaus auf den Balkonen? Wie ist es um die Arbeitsbedingungen in den entsprechenden Berufen bestellt und gibt es Ideen und Konzepte, sie nachhaltig zu verbessern?
Die Idee zum Film war geboren und die Recherche stellte sich als umfangreich heraus. Denn Berufsfelder, die unverzichtbar für den sozialen Zusammenhalt und unsere Versorgung sind und gleichzeitig von schlechten Arbeitsbedingungen geprägt, gibt es viele. Ich sprach mit Gewerkschaftsvertreter*innen über die Situation von Erzieher*innen in Deutschland, die Radfahrerin eines Berliner Lieferkollektivs schilderte mir ihren Alltag, ich telefonierte mit Kitas in Schweden und Dänemark auf der Suche nach Vorzeigeeinrichtungen, diskutierte mit Agrarexpert*innen über die Arbeitsbedingungen vom Erntehelfer*innen in Brandenburg und in Südspanien und mit einem Arbeitsvermittler über die Abwanderung deutscher Pflegekräfte in die Schweiz. Zwischenfazit: zu verbessern gibt es vieles, aber zukunftsweisende Strategien und Konzept sind Mangelware, neue Ideen und Visionen fallen viel zu oft dem Alltagsstress zum Opfer.
Dann nannte mir ein Schweizer Pflegeexperte den Namen einer Pionierin, die in Deutschland schon einiges ins Rollen gebracht habe: Helene Maucher von den Universitäts- und Rehabilitationskliniken Ulm. Die Pflegedirektorin habe das Ziel, als erstes deutsches Krankenhaus das US-amerikanische Magnet-Qualitätssiegel zu erhalten, das für mehr Zufriedenheit, weniger Burn-outs und eine Akademisierung steht. Nach wenigen Telefonaten mit Helene Maucher und Krankenpflegerin Kerstin Leib stand fest: Wir müssen nach Ulm und den Wandel dort dokumentieren. Besonders beeindruckt hat mich der liebevolle, ruhige Umgang der Pflegekräfte mit den Patient*innen – trotz des enormen Stresses mitten in der Pandemie. „Was ich mir wünschen würde, ist, dass mehr Menschen den Beruf ergreifen“, sagt Kerstin Leib. „Das ist ein sehr schöner Beruf, indem man auch alt werden kann und in dem es die Möglichkeit zu einer ständigen Weiterentwicklung gibt.“ Sie hofft, dass vom Wandel in Ulm eine deutschlandweite Signalwirkung ausgeht und das Image ihres Berufs sich langfristig zum Positiven verändert.
Die Krankenpflege steht seit Beginn der Pandemie besonders im Fokus, die Bedeutung der LKW-Branche erst, seit im Herbst 2021 der Mangel an Fahrer*innen in Großbritannien für leere Supermarktregale und Tankstellen sorgt. Dabei droht auch in Deutschland schon lange ein Versorgungsengpass. Es fehlen bis zu 80.000 LKW-Fahrerinnen und Fahrer, jedes Jahr wird die Lücke um 15.000 größer. Speditionen haben große Schwierigkeiten, gute Leute zu finden, auch Vorzeigebetriebe wie die Firma Bork in der Nähe von Gießen. Die mittelständische Firma hält sich schon seit Jahren an die gesetzlichen Vorgaben, die erst 2022 mit dem Mobilitätspaket in Kraft treten. Das sind unter anderem ein Verbot von Wochenend-Übernachtungen im LKW, ein Recht auf Heimaturlaub nach drei Wochen Tour im Ausland und eine gerechte Bezahlung, unabhängig von der Nationalität der Fahrer*innen. Denn wie in fast allen Speditionen haben auch bei Bork die meisten Beschäftigten keine deutsche Staatsangehörigkeit, die Mehrzahl der Fahrer sind Polen.
Sie wünschen sich, ähnlich wie Pflegekräfte, eine gerechte Bezahlung, ebenso wichtig ist ihnen aber mehr Wertschätzung. „Die Leute sehen unsere Arbeit nicht als etwas Positives. Sie glauben, dass an allen Staus LKWs schuld sind“, sagt Fernfahrer Krzysztof Kaczorowski. „Aber sie denken nicht daran, dass ohne uns keine Arzneimittel in den Apotheken liegen würden und keine Waren in den Geschäften.“
Tatsächlich denke auch ich, wie die wohl meisten Konsument*innen, oft nicht darüber nach, wie Waren und Lebensmittel in die Geschäfte gelangen und unter welchen Bedingungen sie produziert werden. Nach den Diskussionen über Corona-Erkrankungen und Todesfälle während der Spargelernte entstand zuerst die Idee, einen landwirtschaftlichen Betrieb in Deutschland zu recherchieren, der zu fairen Bedingungen produziert. Doch dann erinnerte ich mich an Gespräche mit italienischen Freund*innen, die mir von den menschenunwürdigen Arbeits- und Lebensbedingungen in der Obst- und Gemüseernte erzählt hatten – und von Gewerkschafter*innen, Erntearbeiter*innen und Aktivist*innen in Italien, die dabei sind, etwas zu ändern und fair produzierte Lebensmittel auf den Markt bringen.
Einer von ihnen ist Yvan Sagnet, dessen Engagement wir in der süditalienischen Region Apulien dokumentierten. Er hilft Ernterarbeiter*innen, die sklavenähnlichen Bedingungen hinter sich zu lassen und vereinbart mit Agrarbetrieben die gesetzlichen Arbeitsbedingungen zu respektieren. „Ich werde vielleicht nicht die Welt verändern, aber ich werde mein Bestes geben, um anderen zu helfen“, sagt der gebürtige Kameruner. „In nur zwei Jahren haben wir 700 Menschen geholfen, nächstes Jahr werden es 1.500 sein.“ Und das Beste: Inzwischen werden die von Yvan Sagnets Verein als „fair“ zertifizierten Dosentomaten, Obst und Gemüse auch in Deutschland verkauft. So können immer mehr Erntearbeiter*innen nach Tarif bezahlt werden und in menschenwürdigen, sicheren Unterkünften wohnen. Das kann Leben retten, wie ich während der Dreharbeiten für einen ARTE-Film Ende 2021 in Sizilien erfuhr. Die lokalen Medien berichteten über ein Feuer in einer von afrikanischen Erntehelfern bewohnten Barackensiedlung. Ein 37-jähriger Mann aus Guinea-Bissau starb. Er hatte Oliven geerntet – auch für den deutschen Markt.
von Denise Dismer