Frau Dr. Kunkel-Razum, Sie sind Chefredakteurin des Dudens und für manche obendrein eine ideologisch motivierte Sprachverhunzerin. Was hat den Shitstorm ausgelöst?
Den Shitstorm hat ausgelöst, dass wir auf Duden online, also in unserem großen digitalen Wörterbuch, ungefähr 12.000 Einträge zu weiblichen Personen und Berufsbezeichnungen ausbauen. Das heißt, wenn Sie früher nachgeguckt haben, was eine Influencerin oder eine Kellnerin ist, dann stand da immer: weibliche Form zu Kellner oder Influencer. Das heißt, man musste nochmal klicken, um dann bei der männlichen Form die Erklärung und Verwendungsbeispiele zu finden. Das möchten wir ändern.
Wir möchten die weiblichen Formen auch voll ausbauen und mit einer eigenen Definition und eigenen Verwendungsbeispielen versehen. Das tun wir, und jetzt findet man beispielsweise unter Ärztin einen Eintrag, der dann lautet: weibliche Person, die Medizin studiert hat, eine Approbation hat und Menschen medizinisch behandelt. So ähnlich jedenfalls.
Manche schließen aus den veränderten Duden-Einträgen, dass Sie das generische Maskulinum abschaffen und die deutsche Sprache umbauen wollen. Was ist da dran?
Also wir bauen die Sprache nicht um, diese Macht hat Duden nicht. Aber wir schauen natürlich sehr genau, was in der Sprache passiert. Und was wir an unseren Daten sehen, ist, dass das generische Maskulinum immer weiter zurückgedrängt wird. Dass sehr viel häufiger die Splittingform, wie wir das nennen, benutzt wird. Es wird beispielsweise gesagt: „Liebe Kolleginnen und Kollegen“ statt wie früher häufiger: „Liebe Kollegen“. Oder „die Ärztinnen und Ärzte dieses Krankenhauses“ u.s.w.
Der Anstieg der Verwendung dieser weiblichen Personenformen ist in den letzten Jahren ganz klar nachzuweisen. Und damit entsteht eine immer größere Unsicherheit bei der geschlechtsübergreifenden Verwendung der männlichen Form, was jetzt eigentlich gemeint ist, nur die Männer oder alle?
Und in der Folge ist auch der Eintrag bei den entsprechenden männlichen Bezeichnungen geändert worden, und dort steht jetzt bei Kellner, Influencer oder Arzt: männliche Person, die - beispielsweise bei Arzt – Medizin studiert hat, und so weiter.
Und genau daran entzündet sich die Diskussion. Denn früher stand dort bei der männlichen Form: Jemand, der Medizin studiert hat.
Wie müssen wir uns das vorstellen, wenn Sie den Sprachgebrauch „beobachten“, was ist Ihre Grundlage?
Also die wichtigste Grundlage, mit der wir arbeiten, ist das so genannte Dudenkorpus. Das ist eine gigantisch große digitale Textsammlung, die aktuell etwa 5,8 Milliarden - und jetzt kommt ein Fachterminus - laufende Wortformen umfasst. Also das sind nicht verschiedene Wörter, sondern alle Wörter, die darin enthalten sind. Und die gehen zurück auf ungefähr 18 Millionen tatsächlich verschiedene Wörter, die wir haben. (...) Jeden Monat kommen etwa 25.000 neue Texte dort hinein. Das ist nicht unsere einzige Quelle, aber es ist natürlich unsere wichtigste Quelle.
Es gibt einige Einträge, die für besonders große Aufregung sorgen, z.B. „Menschin“ oder „Gästin“. Verunstalten Sie die deutsche Sprache mit selbst erdachten Neuschöpfungen?
Nein das tun wir natürlich nicht, denn es ist nicht so, dass wir uns Wörter ausdenken oder Wortformen ausdenken und die dann in den Duden bringen. Wir müssen schon Belege haben, dass es diese Wörter tatsächlich gibt.
Und der Irrtum liegt auch schon darin, dass das aktuelle Neuaufnahmen wären, das ist schlicht falsch berichtet worden. Die Gästin steht seit 2009 bereits im gedruckten Duden und die Bösewichtin tatsächlich schon seit 2006, auch die Menschin schon deutlich länger, und damit sind all diese Wörter auch von Anbeginn, also seit 2011, 2012 auf Duden online zu finden.
Und wenn man ganz genau hinguckt, dann ist es so, dass sowohl die Gästin als auch die Bösewichtin tatsächlich zum Teil schon Jahrhunderte in unserer Sprache sind und auch im Grimmschen Wörterbuch schon aufgeführt sind. Die sind dann sicher außer Gebrauch gekommen eine ganze Zeit lang, aber wir haben uns da gar nichts ausgedacht.
Wie ist das eigentlich mit dem generischen Maskulinum, gab es das immer schon im Deutschen?
Jetzt muss man unterscheiden, ob man den Begriff meint oder das Phänomen. Der Begriff ist tatsächlich erst in den 70er, 80er Jahren geprägt worden und hat sich in diesen Jahren in der Sprachwissenschaft etabliert, als Begriff ist er also noch gar nicht alt.
Das Phänomen, das damit bezeichnet wird, ist natürlich älter. Aber auch da muss man genauer hinschauen, denn viele Jahrhunderte lang war es ja zum Beispiel überhaupt nicht nötig, die weibliche Form überhaupt zu haben oder zu benutzen, gerade bei den Berufsbezeichnungen nicht, weil die Frauen ja gar nicht in diesen Berufen gearbeitet haben. Sie kamen schlicht gar nicht vor und deswegen mussten sie auch nicht bezeichnet werden.
Und als sie dann dazu kamen, also eben in bestimmte berufliche Bereiche vorgedrungen sind, hat sich diese spezifische Verwendungsweise der männlichen Form, der maskulinen Form eben verbreitet.
Aber von der Wissenschaft her betrachtet wird diese Verwendung tatsächlich schon lange kritisch hinterfragt, weil Untersuchungen ergeben, dass sie nie wirklich generisch wirkt, sondern man assoziiert immer stärker männliche Bilder als Bilder von Männern und Frauen damit.
Was ist mit den Menschen, die sich weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zuordnen. Wie können wir denen in der Sprache gerecht werden?
Ja, da gibt es natürlich unterschiedliche Mittel. (...) Und da kommen wir dann schon schnell zu dem Thema, welche Zeichen benutzen wir, um tatsächlich auf alle Menschen zu referieren und das ist dann die Diskussion um Sternchen, Doppelpunkt oder Unterstrich.
Aber auch da sagen wir als Duden-Redaktion, es ist ja mitnichten das einzige Mittel, ein solches Zeichen einzusetzen. Wir können auch andere Wörter wählen. Wir können zum Beispiel statt „die Journalisten“ oder „die Journalistinnen und Journalisten“ (...), sagen: „die Presse hat sehr ausführlich berichtet“. Da gibt es viele andere Möglichkeiten. Was sich ja inzwischen wirklich durchgesetzt hat, ist „die Studierenden“ zu sagen und alle zu meinen. Also da gibt es sehr unterschiedliche Möglichkeiten in unserer Sprache.
Wenn Zeichen, welches empfehlen Sie: Genderstern, Doppelpunkt oder Unterstrich?
Ja, es obliegt uns tatsächlich nicht, eine Empfehlung zu geben, weil das jetzt tatsächlich eine Frage der amtlichen Rechtschreibung ist, und für die ist der Rat für deutsche Rechtschreibung zuständig, der sich dazu äußern müsste.
Aber was wir beobachten, und das können wir natürlich sagen, ist, dass das Sternchen aktuell das am häufigsten benutzte Zeichen ist, das sehen wir in unseren Daten am häufigsten und das sieht auch der Rat für deutsche Rechtschreibung in seinen Daten am häufigsten.
Allerdings muss man konstatieren, dass der Doppelpunkt durchaus auf dem Vormarsch ist. Aber er ist noch deutlich jünger als das Sternchen, und ob er tatsächlich aufholen oder überholen kann, das lässt sich im Augenblick noch nicht sagen, da muss man die Entwicklung abwarten.
Sagen Sie selbst noch „ich muss zum Arzt“ und verwenden Sie in der Schriftsprache Genderstern oder Doppelpunkt?
Ja, also natürlich sage ich solche Sätze wie: „ich geh mal schnell zum Bäcker“, ganz klar. Wobei da auch tatsächlich klar ist, dass gar nicht die Person gemeint ist. Und es ist tatsächlich irrelevant, ob ich zum Bäcker oder zur Bäckerin gehe, also ob dort ein Mann oder eine Frau im Laden steht, sondern da ist es ja die Institution, und das ist ähnlich wie bei „ich gehe zum Fleischer“, „ich gehe zum Arzt“, in all diesen Beispielen.
Wenn ich aber sehr konkret werde, dann sage ich: „ich muss mal zu meiner Ärztin gehen“ oder „ich muss mal zur Ärztin gehen“, weil ich tatsächlich eine Hausärztin habe, eine Zahnärztin und eine Gynäkologin, und da würde ich persönlich jetzt nicht sagen „ich muss zum Arzt gehen“, wenn ich mich auf diese ganz konkreten Personen beziehe.
Und was mein Schreiben angeht, benutze ich tatsächlich das Sternchen im privaten Verkehr, wo es sich anbietet oder in inoffiziellen dienstlichen Sachen im Kreis meiner Kolleginnen und Kollegen hier. In der Öffentlichkeit bin ich natürlich an die Beschlüsse des Rates für deutsche Rechtschreibung gebunden und der äußert sich ja bisher im amtlichen Regelwerk nicht dazu, also da sind diese Zeichen nicht vorgesehen.
Und wie gendern Sie in offiziellen Dokumenten, mit Bindestrich und Schrägstrich?
Ja genau, also entweder Doppelnennung oder tatsächlich die verkürzte Doppelnennung, also -/ (Bspw. Kolleg/-innen, Anmerkung d. Red.). Das sind die Varianten, die im amtlichen Regelwerk vorgesehen sind und abgedeckt sind, und dann wähle ich diese Varianten. Oder wenn es wirklich darauf ankommt, jetzt alle zu meinen, dann suche ich mir andere Wörter, so wie ich es zuerst beschrieben habe.
Viele sagen, wir hätten wichtigere Probleme, und eine gerechtere Sprache mache die Welt nicht gerechter. Was meinen Sie: Kann Sprache die Welt verändern, sie gerechter machen?
Ja, ich finde diese Darstellung immer wirklich sehr verkürzt. Es kommt ja ziemlich häufig das Argument: Es ist ja viel wichtiger, dass wir den Gender Pay Gap ausschalten, also dass Frauen endlich so viel verdienen wie Männer. Das ist natürlich völlig richtig, ganz klar.
Aber wie funktioniert denn dieser Kampf für eine gleiche Bezahlung? Er funktioniert in und mit Sprache. Frauen müssen hier ihre Ansprüche geltend machen und das machen sie in und mit Sprache. Also das ganze geht gar nicht ohne Sprache. Und gerade hier geht es dann natürlich auch um die systematische Benutzung der weiblichen Form, um eben zu zeigen: wir Frauen sind ja da im Berufsleben. Also man kann diese Dinge überhaupt nicht voneinander trennen.
Wie ist Ihre Prognose für 2050: Wird die deutsche Sprache das generische Maskulinum noch kennen oder werden wir dann alle in irgendeiner Form „gendern“?
Ja, also das ist ja ein bisschen wie Lesen in der Glaskugel. Diese Frage kann ihnen heute natürlich niemand solide beantworten. Da müssen wir einfach schauen, wie sich die Entwicklung vollziehen wird.
Wovon wir aber ausgehen können, ist, dass diese generelle Entwicklung - also hin zu einer differenzierteren Sprachverwendung - nicht aufzuhalten sein wird. Aber welche Formen sich dann nachher wirklich durchsetzen werden, das kann ich nicht beantworten im Augenblick.
Aber für Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftler, die zum Beispiel in der Dudenredaktion arbeiten, ist es natürlich ein sehr spannender Prozess, das ganze anschauen, begleiten und dokumentieren zu können.