In überregionalen Medien war es in den vergangenen Jahren oft nur eine Randnotiz – der weltweite „Tag der Seltenen Krankheiten“ Ende Februar.
Schon das Datum hat eine Bedeutung: Eigentlich ist es der 29. Februar, der seltenste Tag des Jahres. Gibt es kein Schaltjahr liegt der Aktionstag schon auf dem 28. Februar.
Auch ich hatte mit seltene Krankheiten im Alltag keine Bührungspunkte. Gerade einmal seltene Krankheiten wie ALS, medial bekannt geworden durch die "Ice Bucket Challenge" im Jahr 2014, oder Mukoviszidose waren in meinem Kopf verankert. Doch wirklich viel wusste ich selbst über diese Krankheiten nicht.
Gleich zu Beginn meiner Recherche hat sich gezeigt, wie viel mehr hinter diesem Begriff steckt. Und wie das Wörtchen "selten" im Grunde in die Irre führt. Denn es gibt mehr als 6.000 verschiedene Krankheiten. In der Summe sind daher alleine in Deutschland knapp vier Millionen Menschen betroffen. In der EU sind es 30 Millionen Menschen. Im Extremfall betrifft eine Krankheit nur eine Handvoll Menschen. Und gerade diese Menschen suchen oft jahrelang, manchmal sogar jahrzehntelang nach einer Diagnose. Nach der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen.
Was bedeutet das für diese Menschen und vor allem: Wie kann ihnen besser und schneller geholfen werden?
Das wollte ich mit meiner Recherche herausfinden.
Mit der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE e.V.) gibt es in Deutschland ein übergeordnetes Netzwerk von Selbsthilfeorganisationen. Es geht um Wissensvermittlung, Unterstützung, Austausch und Sensibilisierung. Dort machte man mich auch direkt auf die sogenannten "Zentren für seltene Erkrankungen" aufmerksam, deren Aufbau auch von der deutschen Politik in den vergangenen Jahren gefördert wurde.
Mit diesen Zentren wurden direkte Anlaufstellen für Menschen mit seltenen Krankheiten oder unbekannter Diagnose geschaffen. Denn diese fallen beim Haus- oder Facharzt oft durchs Raster. In den Zentren arbeiten Spezialist:innen aus vielen unterschiedlichen Fachbereichen eng unter einem Dach zusammen und nehmen sich viel Zeit für jeden Fall. Eines dieser 37 Zentren befindet sich am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.
Dort lernte ich dann auch Angelina kennen. Ihre Geschichte verdeutlicht, warum es bei seltenen Krankheiten dringend neue Ansätze braucht: Erst nach 30 Jahren erhielt die heute 34-jährige im Hamburger Zentrum die richtige Diagnose. Sie hat die seltene Krankheit Mukopolysaccharidose.
Jahrzehntelang waren die Ärzte bei ihr auf der falschen Spur, erst im Zentrum ging man bei den Untersuchungen den entscheidenden Schritt weiter. Die Diagnose war für sie lebensverändernd, brachte aber auch viele Gedanken mit sich, wie sie erzählt: "Natürlich fragt man sich auch: was wäre, wenn ich diese Diagnose schon vor 30 Jahren bekommen hätte? Wie würde es mir dann heute gehen?" Mit diesen Gedanken ist sie nicht allein, wie mir Gespräche mit Betroffenen gezeigt haben. Aber viele von ihnen, auch Angelina, sind der Meinung: Noch schlimmer ist es, nicht zu wissen, was man hat.
Angelina erzählte mir auch, wie viele Probleme eine unklare Diagnose mit sich bringt. Von einer einfachen Krankschreibung bis hin zur Beantragung von finanzieller Unterstützung gibt es viele Hürden. Und sie berichtete mir auch von ihrer Ärzte-Odyssee: Von den zahlreichen Operationen, die schon im Kleinkindalter begannen, der Hoffnung bei neuen Medikamenten und der Enttäuschung, wenn sich nichts gebessert hat. Und von den Schmerzen, die sie im Alltag hat.
Auch erfahrene Ärzte stoßen bei seltenen Krankheiten oft an ihre Grenzen. Deshalb war ich sofort neugierig, als ich das erste Mal von dem Konzept der Studierendenklinik am Frankfurter Zentrum für seltene Krankheiten las. Die Fälle landen hier zuerst bei einem Team aus Studierenden der Medizin, die sich für seltene Krankheiten, aber auch ein bisschen für Detektivarbeit im Stil des berühmten Fernseharztes Dr. House interessieren.
Tatsächlich fanden wir zwei Studierenden, Emily Brandt und Firat Erinç, die wir mit der Kamera bei einem echten Fall begleiten konnten. Wie gehen sie an so eine Akte ran? Wo recherchieren sie? Wie schwer wiegt auch die Verantwortung bei zwei noch so jungen Menschen? Die Studierenden haben den Vorteil, dass sie einen frischen, unvoreingenommenen Blick haben. Selten oder häufig spielt für sie noch keine große Rolle. Ich war beeindruckt, mit wie viel Neugier, Wissen und Hartnäckigkeit die beiden Studierenden den Fall angehen.
Die Diagnose ist eine Schwierigkeit bei den seltenen Krankheiten. Doch auch bei der Medikamentenversorgung gibt es in Deutschland noch große Lücken. Die meisten seltenen Krankheiten sind nicht heilbar, aber häufig gibt es mit den richtigen Medikamenten gute Möglichkeiten, Symptome zu lindern. Über eine Recherche fand ich die Medios-Apotheke in Berlin, eine von nur wenigen Spezialapotheken für seltene Krankheiten.
Bei einem Videocall erklärten mir Apothekerin Lara Fürtges und ihr Chef Dr. Dennis Stracke das Konzept der Apotheke: sie bieten einen ganz individuellen Beratungsservice für Menschen mit seltenen Erkrankungen und sie entwickeln und mischen ihre eigenen Rezepturen. Denn bei seltenen Krankheiten sind individuelle Medikamente ganz wesentlich – Alter, Ausprägung, Geschlecht oder Vorerkrankungen können die Wirkung beeinflussen. Lara Fürtges und ihr Team sehen ihre Arbeit auch als gesellschaftliche Inklusion. "Ich würde mir wünschen, dass es mehr Bewusstsein für diese Krankheiten in der Gesellschaft gibt", sagt die Apothekerin.
Über die Apotheke lernte ich Richard Bauer kennen. Der 31-jährige hat die seltene Duchenne-Krankheit, durch die er zunehmend an Muskelgewebe verliert. Als ich das erste Mal am Telefon mit ihm sprach, sagte er sofort: "Vielleicht verstehst du mich nicht so gut, ich werde dauerhaft durch die Nase beatmet." Die Krankheit schwächt auch seine Atemmuskulatur.
Er erklärte mir viel über seine Krankheit, sein Engagement, seine Hockey-Mannschaft und darüber, dass er im Alltag so selbstbestimmt wie möglich leben will. Dazu trägt auch die Apotheke bei, die erste Anlaufstelle für ihn ist, wenn er Medikamente, Rezepte oder Überweisungen braucht. Dort bekommt er auch ein für ihn speziell angefertigtes Mundspray, das ihm beim Sprechen und Essen hilft. Richard Bauers Fall zeigt mir, wie wichtig es für Menschen mit seltenen Krankheiten ist, zentrale Anlaufstellen mit entsprechender Fachkenntnis zu haben.
Viele der Forderungen von Betroffenen, Vereinen und Organisationen sind auch schon in der Politik angekommen. Mit dem "Nationalen Aktionsplan für Menschen mit Seltenen Erkrankungen" wurden 2013 konkrete Maßnahmen festgehalten, damit Betroffenen besser und schneller geholfen werden kann. Klingt gut, dachte ich, aber dann las ich, dass es in Frankreich bereits vier solcher Pläne gibt. Offenbar ist das Thema dort schon länger präsent, also wollte ich schauen, was dort anders gemacht wird.
Ich stieß rasch auf die Organisation AFM-Téléthon. In Frankreich kennt sie fast jeder. Denn einmal im Jahr veranstalten sie einen großen Spendenmarathon im Fernsehen. Ganz ähnlich wie bei uns die Aktion "Ein Herz für Kinder", auch dort mit vielen Prominenten und natürlich Betroffenen. Die Spendensummen sind beeindruckend: 2021 waren es knapp 73 Millionen Euro. Das Geld fließt vor allem in die hauseigene Forschung an Medikamenten und Therapiemöglichkeiten – denn für viele Pharmafirmen sind seltene Krankheiten nicht lukrativ genug. Auch hier versucht AFM-Téléthon die Lücke zu schließen. Neben den Spenden geht es der Organisation vor allem auch um Aufklärung. Im Dezember 2021 konnten wir den Spendentag im Hauptquartier in der Nähe von Paris mit der Kamera begleiten.
Die Ideen, Pläne und kreativen Lösungen im Film sollen zeigen, dass das Thema seltene Krankheiten langsam aus dem Schattendasein hervortritt. Oft ist es der Verdienst von engagierten Betroffenen selbst, der das ermöglicht. Doch mit den Zentren für seltene Krankheiten ist in den vergangenen Jahren auch ein übergreifendes System in Deutschland aufgebaut worden, das Betroffenen schneller und besser helfen soll. Ein Fortschritt, denn hinter jedem ungeklärtem oder seltenem Fall steckt ein Name und damit ein individuelles Schicksal.
von Maike Wurtscheid