30 Jahre nach Tschernobyl: Die Reaktorkatastrophe vom 26. April 1986 war der größte Unfall in der zivilen Nutzung der Kernkraft. Wie viele Menschen bis heute an den Folgen des Super-GAUs gestorben sind, ist immer noch umstritten. Was ist damals wirklich geschehen? Ist die Strahlung heute noch gefährlich? Und was weiß man über die Spätfolgen?
Die Geschichte des Reaktorunfalls ist eine Geschichte der Fehl- und Desinformation. Am Morgen des 28. April 1986 wird bei Routinemessungen im schwedischen Kernkraftwerk Forsmark so hohe Radioaktivität festgestellt, dass Alarm ausgelöst wird – ein ernster Störfall. Auch um das Kraftwerk sind die Werte stark erhöht. Aber es kann keine Fehlfunktion festgestellt werden. Windrichtung und Wetterdaten deuten schließlich auf eine Strahlungsquelle in der damaligen Sowjetunion hin: das Kernkraftwerk von Tschernobyl, 1300 Kilometer von Forsmark entfernt, an der heutigen Grenze zwischen Weißrussland und der Ukraine.
Die Katastrophe
Der Super-GAU hatte sich schon zwei Tage zuvor ereignet: Eine Notfallübung, bei der ein Stromausfall simuliert werden sollte, gerät außer Kontrolle. Reaktorblock 4 explodiert, das Dach des Reaktorgebäudes wird weggesprengt, und durch die einströmende Luft gerät das Graphit im Reaktorkern in Brand. Schnell erreicht radioaktive Strahlung die nahe gelegene Stadt Prypjat. Doch die Bevölkerung ahnt nichts von der Katastrophe. Erst über 30 Stunden nach der Explosion wird mit der Evakuierung der Bewohner von Prypjat und der umliegenden Siedlungen begonnen. Nach zweieinhalb Tagen liegt eine Pressemeldung der sowjetischen Behörden vor. Man spricht von einem Unfall, während sich am Reaktor ein dramatischer Kampf ums Überleben abspielt. Die Kraftwerksleitung spielt den Vorfall herunter, sogar der eigenen Regierung gegenüber. Erst nach zehn Tagen gelingt es, den Brand mit festen Stoffen wie Sand und Blei zu löschen.
Rund um Tschernobyl wird eine Sperrzone mit einem Durchmesser von 60 Kilometern errichtet. Hier ist besonders viel radioaktives Cäsium und Jod niedergegangen. Bis heute ist die Gegend ein Niemandsland, kontaminiert und menschenleer. Immer noch sind die Böden schwer mit Cäsium 137 belastet, dessen Strahlung sich nach 30 Jahren gerade einmal halbiert hat. Trotzdem hat sich hier eine vitale Tierwelt angesiedelt. Wie sehr diese unter den Risiken und Spätfolgen der radioaktiven Strahlung leidet, darüber sind sich die Forscher noch uneins: Einerseits werden Genschäden beobachtet, zum Beispiel bei Spinnen, andererseits lässt sich feststellen, dass viele Tierarten, wie zum Beispiel Wölfe, weniger empfindlich reagieren als erwartet.
Wie dramatisch sind die Spätfolgen?
Wie groß die Auswirkungen auf den Menschen wirklich waren und sind, ist bis heute umstritten. Schätzungen über mögliche Todesopfer der nuklearen Katastrophe reichen von unter 10.000 bis weit über 100.000. Viele Helfer, die unmittelbar vor Ort der Radioaktivität ausgesetzt waren, starben innerhalb weniger Monate an der Strahlenkrankheit. Hunderttausenden drohen Spätfolgen durch die schleichende Wirkung des radioaktiven Fallouts, vor allem von Jod und Cäsium.
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Die Bewohner von Prypjat waren vor ihrer Evakuierung knapp eineinhalb Tage lang der Strahlung ausgesetzt. Jahre später häufen sich bei ihnen Krebserkrankungen. Doch ob das eine Folge der Reaktorkatastrophe ist, lässt sich nicht beweisen. Krebstumoren sieht man nicht an, ob sie auf Radioaktivität zurückgehen. Die Forscher können den Einfluss der Strahlung nur schätzen. Wie hoch ist das Risiko, wenn Menschen nur kurze Zeit hoher Strahlung ausgesetzt sind, wie bei den etwa 200.000 sogenannten Liquidatoren, die rund um den Reaktor als Aufräumarbeiter eingesetzt waren? Ihre Strahlenbelastung fällt in den Bereich, der keine eindeutige statistische Aussage mehr erlaubt. Noch schwieriger ist die Einschätzung bei 200.000 Evakuierten rund um die Reaktorregion und den Millionen Menschen im Einflussbereich der radioaktiven Wolke. Die große Mehrzahl der Betroffenen war einer schwachen Strahlendosis ausgesetzt. Eine Aussage über das Verhältnis von Dosis und Wirkung ist hier reine Spekulation. Einige Experten glauben, dass unter einem bestimmten Wert die Strahlung kaum noch negative Folgen hat. Andere sind überzeugt, dass bei schwacher Strahlung das Risiko zu erkranken im Verhältnis sogar ansteigt.
Der Nachweis
Als Teil einer internationalen Forschungsgemeinschaft arbeitet ein Team von Wissenschaftlern am Helmholtz Zentrum in München mit Gewebeproben aus der Ukraine. Jahrelang wurden 13.000 Betroffene des Super-GAUs auf Schilddrüsenkrebs untersucht. Während der Tumortherapie wurden ihnen Proben entnommen. Normalerweise ist Schilddrüsenkrebs bei Kindern selten, doch in den strahlenverseuchten Gebieten trat er auffällig oft auf, auch 20 Jahre später. Der Grund: Vor allem in der kindlichen Schilddrüse reichert sich radioaktives Jod an. Dieses gelangte in erster Linie mit kontaminierter Milch in den Körper der Kinder. Betroffene, die 1986 noch Kinder waren, wurden also mit hoher Wahrscheinlichkeit durch die Strahlung krank. Mithilfe der Gewebeproben wollen die Forscher in München herausfinden, ob radioaktive Strahlung tatsächlich der Auslöser ist. Dazu vergleichen sie Schilddrüsenkrebszellen von Kindern, die der Strahlung unmittelbar nach dem Unfall ausgesetzt waren, mit solchen von Kindern, die erst später geboren wurden.
Die Forscher suchten im Gewebe der Schilddrüsentumore nach einem speziellen Merkmal, das nur beim strahleninduzierten Krebs auftritt. Und tatsächlich konnten sie die Vervielfältigung spezieller Chromosomenabschnitte nachweisen. Dieses Merkmal fehlt bei Schilddrüsenkrebs von Kindern, die keiner Strahlung ausgesetzt waren. Der Unterschied zeigt sich auch auf Ebene der Proteine. Für die Forscher ist das ein eindeutiger Marker für strahleninduzierten Schilddrüsenkrebs. Zwar haben sie die verräterischen Hinweise bisher nur bei Betroffenen entdeckt, die als Kinder exponiert waren. Doch die Forschung ist ein wichtiger Schritt auf der Suche nach Belegen für das Krebsrisiko durch niedrige Dosen radioaktiver Strahlung.
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Das Erbe der Vergangenheit
Kurz nach dem Löschen der Brände 1986 wurde die Reaktorruine in einem Sarkophag aus meterdickem Beton verschlossen. Doch die geschätzte Lebensdauer des Sarkophags ist nach 30 Jahren überschritten, radioaktive Strahlung entweicht. Ab 2017 soll ein neuer Sarkophag über die Unglücksstelle von Tschernobyl geschoben werden und diese für die nächsten 100 Jahre versiegeln. Es ist eine in ihrer Dimension nie da gewesene Konstruktion: 29.000 Tonnen schwer, 164 Meter lang und 110 Meter hoch – das größte bewegliche Bauwerk der Welt. Doch für die noch viel größere Herausforderung entwickelt man gerade erst einen Plan: Der Unglücksreaktor selbst muss irgendwann abgebaut und entsorgt werden. Mindestens 50 Jahre würden die Arbeiten dauern.
Trotz Atomausstieg bis 2022 steht man in Deutschland vor ähnlichen Herausforderungen. Der Rückbau der bis dahin abgeschalteten Kernkraftwerke wird Jahrzehnte in Anspruch nehmen. Mehr als 25 Kraftwerke müssen in naher Zukunft abgerissen werden, wie es derzeit mit dem Kernkraftwerk Lubmin bei Greifswald geschieht. Abgesehen vom hochradioaktiven Reaktormüll gibt es in jeder Anlage mehrere Tausend Tonnen verstrahlte Bauteile, die entweder eine spezielle Endlagerung benötigen oder in einem aufwendigen Prozess zerlegt und dekontaminiert werden müssen. Hinzu kommen noch mehrere Hunderttausend Tonnen Bauschutt, die ebenfalls entsorgt werden müssen. Am Ende wird der Rückbau pro Kraftwerk jedes Jahr viele Millionen Euro verschlingen. Um diesen Prozess mit einem gewinnbringenden Nutzen zu verbinden, gibt es Überlegungen, die bestehenden Standorte von Kernkraftwerken in den Dienst der Energiewende zu stellen. So ist auch 30 Jahre nach Tschernobyl der Umgang mit Kernkraftwerken ein Thema, das uns so schnell nicht loslässt.
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