Fremdgesteuert - die Macht der Erinnerung

Zwei Hirnbereiche reagieren auf emotional stark aufgeladene Situationen mit besonders hoher Aktivität, und beide sind besonders wichtig für die Bildung von Erinnerungen. Der Hippocampus, in dem überwiegend der faktische Teil der Erfahrung verarbeitet wird. Und die so genannte Amygdala, in der die unbewussten Emotionen gebündelt werden. Doch warum reagieren gerade diese beiden Bereiche so intensiv?
In gefährlichen Situationen werden Stresshormone ausgeschüttet. Kommt es zu extremem Stress, kann der Hippocampus die Arbeit einstellen – quasi als eine Art Überlastungsschutz. Dabei können auch Blockaden zu alten Erinnerungen entstehen. Während die Funktion des Hippocampus gestört ist, speichert die Amygdala jedoch – meistens völlig unbewusst - weiter Emotionen ab. Psychiater sind überzeugt: Komplexe neuronale Prozesse können nicht nur zum Gedächtnisverlust, sondern auch zu Änderungen der Persönlichkeit führen. Die Forscher halten es für wahrscheinlich, dass sich in bestimmten Fällen die Gewichtung im Zusammenwirken der zwei Gehirnhälften verschiebt: die linke Hälfte, die mehr für das Rationale, Kontrollierende zuständig ist, und die rechte, die mehr für das Spontane, Emotionale steht.

Lange war es ein Rätsel, wie und wo Erinnerungen im Gehirn gespeichert werden. Bis der Fall von Henry Molaison ganz neue Einsichten eröffnete: Wegen schwerer epileptischer Anfälle wurden ihm im Jahr 1953 Teile seines Gehirns, die die Anfälle ausgelöst haben sollen, entfernt. Auch der so genannte Hippocampus. Molaison verlor damit nicht nur viele seiner Erinnerungen, sondern kann seither auch nichts behalten, was länger als sieben Sekunden zurückliegt. Heute weiß man, im Hippocampus fließen Informationen der Sinnesorgane zusammen. Dort werden sie nach Wichtigkeit sortiert und geordnet. Voraussetzung dafür, dass die Informationen gespeichert werden können, und zwar in ganz verschiedenen Bereichen des Gehirns. Ohne Hippocampus kann Molaison sich nichts länger als sieben Sekunden merken. Doch ein Test, bei dem Molaison einen Stern, den er nur über einen Spiegel sieht, nachzeichnen muss, zeigt Erstaunliches: Durch Üben über mehrere Tage wird er stetig besser – obwohl er sich an keine einzige Wiederholung erinnern kann. Eine Art „motorische Erinnerung“ scheint also noch zu funktionieren. Für die Forscher ein Beweis, dass es verschiedene Arten von Erinnerungen - auch unabhängig vom Hippocampus - geben muss.

Ein Versuch mit Ratten soll Einblicke liefern, was beim Schlafen im Gehirn passiert. Die Aufgabe: Am Tag sollen die Tiere den Weg durch ein einfaches Labyrinth finden. Parallel dazu werden die Hirnwellen der Tiere aufgezeichnet, ebenso im Schlaf danach. Im Vergleich der Hirnwellenmuster vom Tage und von der Nacht zeigen sich Parallelen. Die Ratte scheint den Weg durchs Labyrinth mehrmals im Schlaf zu rekapitulieren. Allerdings 10- bis 20-mal so schnell wie in Realzeit. Bei den Ratten zeigen sich nach dem Schlaf Lernfortschritte: Sie bewältigen das Labyrinth nun sicherer. Die Erklärung der Forscher dazu: Die Nervenzellen im Gehirn stehen durch so genannte Synapsen in Verbindung miteinander. Jede einzelne Nervenzelle steht mithilfe der Synapsen mit bis zu 10.000 anderen im Informationsaustausch. Durch Erlebnisse im Wachzustand wird die Bildung neuer Kontakte angeregt. Im Tierversuch konnten Wissenschaftler nachweisen, , dass sich während des Schlafes die am Tag neugebildeten Synapsen verfestigen, wenn sie nachts erneut aktiviert werden.

Auch bei uns Menschen ist das Gehirn nachts aktiv. Tagsüber werden wir von Sinneseindrücken überflutet. Um uns überhaupt auf Dauer an etwas erinnern zu können, muss unser Gehirn filtern, Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden und dann aussortieren: Nur was von Bedeutung ist, wird festgehalten, alles andere vergessen. Im Schlaf setzt sich dieser Verarbeitungsprozess fort. Was uns emotional berührte oder uns inhaltlich besonders wichtig erschien, wird im Schlaf rekapituliert, mehrfach wiederholt und in einem Netzwerk von Synapsenverbindungen dauerhaft abgespeichert. Das Gehirn braucht die Ruhe der Nacht, um die Informationsflut bewältigen zu können. Schlafen ist eine zentrale Voraussetzung dafür, dass wir Neues lernen und Erinnerungen bilden können. Denn parallel Reize aufnehmen und komplett verarbeiten, ist auf Dauer unmöglich.

Wenn wir uns erinnern, werden im Gehirn Synapasenverbindungen reaktiviert, die sich ursprünglich gebildet haben. Aus einem Mosaik von Eindrücken bauen wir die Erinnerung quasi jedesmal neu zusammen und zwar so, dass sie in einem sinnvollen Zusammenhang zu unserem aktuellen Leben stehen. Dabei können sich Fehler und unbewusste Anpassungen einschleichen.
Wie es zu falschen Erinnerungen kommen kann, und ob sie sich auch gezielt erzeugen lassen, wollen Psychologen aus London klären. Dazu werden Probanden für eine Studie zum Thema „Kindheitserinnerungen“ gesucht. Was sie nicht wissen: Vor dem Gespräch werden bei Eltern und Freunden Details und Anekdoten aus der Lebensgeschichte recherchiert. Denn: Neben wahren Vorfällen soll den Probanden eine erfundene Geschichte untergeschoben werden. Laut der Fantasiegeschichte sollen sie eine Handgreiflichkeit ausgelöst haben, zu der sogar die Polizei gerufen wurde. Eine Probandin wird mit der erfundenen Geschichte konfrontiert, als wäre sie wirklich passiert. Natürlich fehlen ihr die Erinnerungen. Während man ihr die vermeintlichen Details der Geschichte erzählt, soll sie versuchen, die „verschütteten Eindrücke“ wieder zu erwecken: Sie wird in die Szene zurückgeführt, von der angeblich ihre Eltern erzählt haben. Beim zweiten Termin nach einer Woche tauchen bei ihr plötzlich erste Details auf. Wieder eine Woche später erinnert sie sich sogar an Einzelheiten, wie die Polizisten bei dem Handgemenge eingeschritten sind. Und das, obwohl der Vorfall nie passiert ist! Folge einer geschickten Manipulation: der Verknüpfung von echten Details mit neu erfundenen Szenen, die aus vermeintlich glaubwürdiger Quelle stammen.