Doch bei einem geschwächten Immunsystem, etwa nach einer Organtransplantation, kann der Erreger die Oberhand gewinnen – und lebensbedrohliche Erkrankungen hervorrufen. Gibt es eine Möglichkeit, diesem häufig tödlichen Risiko vorzubeugen?
Prof. Dr. rer. nat. Helga Rübsamen-Schaeff und Dr. rer. nat. Holger Zimmermann ist es gelungen, erstmals einen Wirkstoff ausfindig zu machen, der effektiv vor Attacken des Humanen Cytomegalie-Virus (CMV) schützt. In einem neu gegründeten Unternehmen entwickelten die beiden Nominierten mit der Substanz ein Medikament, das neue Perspektiven in der Transplantationsmedizin erschließt. Es steht seit Kurzem für Patienten bereit, die sich einer Knochenmarkstransplantation unterziehen müssen. Helga Rübsamen-Schaeff gründete die AiCuris Anti-infective Cures GmbH im Jahr 2006 und leitete sie bis 2015; sie ist heute Vorsitzende des wissenschaftlichen Beirats. Holger Zimmermann ist Chief Executive Officer des Wuppertaler Unternehmens.
Für viele Patienten mit Blutkrebs, bei denen andere Behandlungen wie eine Chemotherapie nicht helfen, ist die Transplantation von Knochenmark die letzte Hoffnung auf Heilung. Dazu werden ihnen eigene Zellen oder Knochenmark eines geeigneten Spenders übertragen. Damit auch die Krebszellen vernichtet werden, zerstören die Ärzte zuvor beim Empfänger das eigene Knochenmark. Dadurch wird die Immunabwehr für einige Zeit ausgeschaltet. Das ist sozusagen ein gefundenes Fressen für Humane Cytomegalie-Viren: Die Erreger, die zu den Herpesviren gehören, trägt in Industrieländern etwa jeder Zweite in sich. Meist haben sie keine Chance, Unheil anzurichten. Doch wenn das Immunsystem geschwächt ist, können sie ein zerstörerisches Werk beginnen. Bei Transplantationspatienten führt das zu heftigen Abstoßungsreaktionen, Organschäden und schlimmstenfalls bis zum Tod. Zwar gibt es Arzneimittel gegen eine Infektion mit den gefährlichen Erregern, etwa nach einer Knochenmarksübertragung. Doch sie haben starke Nebenwirkungen und können daher nicht vorbeugend zum Schutz eingesetzt werden.
Das haben die beiden Nominierten zum ersten Mal ermöglicht. Sie identifizierten einen völlig neuen Wirkstoff, Letermovir, der einer anderen chemischen Klasse angehört als die bisher gegen CMV-Infektionen einsetzbaren Substanzen und deshalb auch nach einem anderen Prinzip wirkt. Er ist daher keine Weiterentwicklung, sondern greift – anders als die herkömmlichen Medikamente – eine Struktur des Virus an, für die es im menschlichen Körper kein Pendant gibt. Das verhindert Nebenwirkungen und macht das Mittel gut verträglich. Weil der Wirkstoff das Humane Cytomegalie-Virus direkt attackiert, lässt sich damit seine Ausbreitung im Körper verhindern.
Auf Basis des neuartigen Wirkstoffs hatten die Nominierten ursprünglich bei der Bayer AG ein Medikament entwickeln wollen. Doch kurz danach beendete der Pharmakonzern seine Aktivitäten in der Infektionsforschung. Diese Herausforderung meisterten die Forscher um Prof. Rübsamen-Schaeff, indem sie 2006 zusammen mit weiteren ehemaligen Bayer-Mitarbeitern und unterstützt durch Investoren das Unternehmen AiCuris gründeten. Dort entwickelten sie das Arzneimittel weiter – bis zur entscheidenden dritten klinischen Testphase. Für diese letzte klinische Prüfung schloss die junge Pharmafirma 2012 eine strategische Partnerschaft mit dem US-Unternehmen Merck Sharp & Dohme (MSD). Inzwischen ist die finale Studie erfolgreich abgeschlossen und das Medikament mit dem Namen Prevymis® am Markt eingeführt. Zugelassen ist es bislang in der EU, der Schweiz, den USA, Kanada und Japan – zur Prophylaxe gegen eine mögliche Infektion mit CMV bei Knochenmarkstransplantation. Zulassungen in weiteren Ländern sind beantragt. Für Empfänger von Knochenmarkspenden ist Prevymis® das einzige vorbeugend wirksame Arzneimittel, alle konkurrierenden Entwicklungen sind in der klinischen Testphase gescheitert.
Das Potenzial des Medikaments ist groß, da die Zahl der Transplantationen von Knochenmark weltweit stetig wächst. Derzeit sind es rund 60.000 pro Jahr, von denen rund 40.000 durch das Virus gefährdet sind. Weitere Anwendungen könnten künftig folgen. Denn das Humane Cytomegalie-Virus bedroht jeden, der den Erreger in sich trägt und unter einer Immunschwäche leidet: zum Beispiel AIDS-Patienten, Neugeborene oder Empfänger anderer Spenderorgane. So hat MSD 2018 eine Studie zum Einsatz des Medikaments bei Nierentransplantationen gestartet. Ist sie erfolgreich, könnte eine Zulassung dafür ab 2022 erfolgen.
Vertrieben wird das Arzneimittel, das durch seine vorbeugende Wirksamkeit einen Paradigmenwechsel in der Transplantationsmedizin eingeläutet hat, durch Merck Sharp & Dohme. Doch AiCuris ist am Umsatz beteiligt, der wenige Monate nach Markteinführung stetig steigt und bereits rund fünf Millionen Euro monatlich beträgt Darüber hinaus erhält AiCuris Meilensteinzahlungen. So flossen bisher schon 260 Millionen Euro an das Unternehmen, das zudem eine Option auf eine gemeinsame Vermarktung des Medikaments mit MSD in mehreren europäischen Ländern hat. Die Einnahmen haben bereits zu einer positiven Unternehmensbilanz geführt und sollen dazu genutzt werden, weitere aussichtsreiche Wirkstoffkandidaten zu entwickeln. Am Standort Wuppertal konnten schon zahlreiche neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Für die deutsche Biopharma-Branche ist der Erfolg überdies ein klares Signal: Innovative medizinische Entwicklungen aus Deutschland haben wieder international gute Aussichten.