Kaum ein Verein in Europa produziert mehr Nachwuchstalente als der nächste Champions-League-Gegner des FC Bayern München - der RSC Anderlecht (Mittwoch/live im ZDF ab 20:25 Uhr). Der Klub holt mit einem einzigartigen Konzept Kinder aus einem Problemviertel von der Straße.
Wer weiß, was aus Romelu Lukaku oder Vincent Kompany geworden wäre, hätten sie nur ein paar Straßen weiter gewohnt. Hätten sie nicht täglich auf der Straße Fußball gespielt. Hätten sie vielleicht die falschen Freunde gehabt. Was wäre wohl passiert, wären die beiden nicht den Talentsuchern des RSC Anderlecht ins Netz gegangen, damals, als junge Nachwuchskicker aus einem schwierigen Stadtteil Brüssels. Heute spielt das Duo für Manchester United und City – und die Erfolgsgeschichte der beiden Star-Kicker ist die Erfolgsgeschichte des RSC Anderlecht.
Begehrter Nachwuchs
Denn der Klub aus der belgischen Hauptstadt ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Legebatterie für Top-Nachwuchsfußballer in Europa. Die Spieler sind begehrt: Obwohl die Anderlechter vor dem Champions-League-Duell gegen Bayern München aus vier Spielen null Punkte und ein Torverhältnis von 0:15 aufweisen, stehen junge Kicker wie Innenverteidiger Kara oder Mittelfeldspieler Leander Dendoncker längst bei den Spitzenteams auf dem Einkaufszettel.
Es ist die Krux eines Top-Vereins aus einer kleinen Liga. Klubs wie Ajax Amsterdam, der FC Porto oder eben Anderlecht können ein Lied davon singen. Talent nach Talent strömt aus der Nachwuchsabteilung in die erste Mannschaft – und wird dann von den zahlungskräftigeren Klubs, vorzugsweise aus der Premier League, immer früher weggekauft.
Konsequent den Weg gehen
Die Folge: Das Nationalteam Belgiens wird dank Top-Fußballern in Top-Ligen immer stärker. Doch den Klubs aus der heimischen Liga fehlt die sportliche Qualität, um in der Zweiklassengesellschaft der Champions League mitzuhalten. Und doch ist der Anderlechter Weg in der heutigen Zeit der einzige, um in einem kleinen Land ohne zahlungskräftigen Fernsehmarkt erfolgreich zu sein.
Anderlecht geht diesen Weg konsequenter als fast jeder andere Klub. Das zeigt ein Blick drei, vier Kilometer über die Stadtteilgrenzen innerhalb Brüssels hinweg. Dort liegt Molenbeek. Einst Name eines ruhmreichen Fußballklubs, taucht Molenbeek als Problemviertel heute nur noch im Zusammenhang mit Terrorismus auf. Denn die Fußballer, die den Sprung ins große Geschäft geschafft haben, wachsen nicht selten Tür an Tür mit den jungen Männern auf, die später nach Syrien gehen oder verheerende Anschläge verüben.
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Zusatzschichten für den Durchbruch
Molenbeek, ein Viertel mit überdurchschnittlich viel Armut und Kriminalität, bietet ein fast unerschöpfliches Reservoir an Nachwuchskickern. Fast alle spielen sie auf der Straße, von klein an, aus Mangel an Alternativen. Der RSC Anderlecht erkannte dieses Potenzial – und startete mit dem „Purple Talent Project“ eine einzigartige Initiative. Die Grundidee war, den Fußball-Nachwuchs nicht nur wie üblich trainieren zu lassen, sondern besonders zu fördern – auch abseits des Platzes.
Individual-Coaches übten vor dem Gruppen-Training in Sondereinheiten mit den besonders talentierten Spielern. Diese Idee, von Anderlechts Nachwuchs-Direktor Jean Kindermans ins Leben gerufen, brachte den Kindern nun 540 statt nur 360 Minuten Training in der Woche. Und die Erkenntnis, dass es genau diese Zusatzschichten waren, die aus einem überdurchschnittlich begabten Fußballer ein Top-Talent machten.
MIt Sozialarbeitern in die Weltklasse
Vielleicht war auch ein bisschen Glück dabei, dass eben jener eingangs erwähnte Romelu Lukaku zu den ersten Nachwuchskräften gehörte, die im Purple Talent Project kickten. Er wurde ein Star, brachte Anderlecht viel Geld ein. Aus den 17 Spielern, die eingangs im Projekt untergebracht waren, sind heute 80 geworden. Jedes Jahr schaffen drei bis vier Spieler aus dem eigenen Nachwuchs den Sprung in die erste Mannschaft. Diejenigen, die durchs Raster fallen, stürzen jedoch nicht zu tief: Denn der Klub kümmert sich darum, dass möglichst alle einen Schulabschluss machen, sie alle Niederländisch, Französisch und Englisch lernen.
Und der RSC versucht auch, Probleme in den Familien zu lösen. Vincent Kompany wurde einst ein Sozialarbeiter zur Seite gestellt. So konnte er sich auf Fußball konzentrieren – und wurde zum Weltklasseverteidiger. Heute arbeiten vier soziale Helfer im Klub, die sich nur um die Belange der Jung-Kicker abseits des Spielfeldes kümmern. Und wenn die Probleme zuhause zu groß sind, werden Gastfamilien gesucht. Der Verein hat einen Verhaltenskodex, der Erziehung und Respekt predigt, vor allem keine Unterschiede in Herkunft und Hautfarbe macht. „Wir schauen auf die guten Füße, den guten Kopf und die gute Mentalität“, sagte Kindermans der „FAZ“. Der Erfolg gibt ihm und dem RSC Anderlecht Recht. Auch wenn die Mannschaft dem deutschen Rekordmeister wohl kaum Paroli bieten kann – in Sachen Nachwuchsförderung könnten sich die Münchener so einiges von den Belgiern abschauen.