Die Tenniswelt schwärmt von Alexander Zverev schon als kommendem Grand-Slam-Champion - doch bei den Australian Open sorgt sein älterer Bruder Mischa für Furore. Andy Murray geschlagen und nun wartet Roger Federer im Viertelfinale - und das nach zehn Jahren Durststrecke.
Vor drei Jahren war Mischa Zverev ganz unten angekommen. Sein Handgelenk war operiert worden, sein linker Arm steckte bis über den Ellbogen in Gips. Und seine Tenniskarriere steckte schon lange fest. In der Rangliste stand er gerade noch innerhalb der Top 200, in dieser Sphäre hat das Niemandsland des Profidaseins längst begonnen. Zverev konnte nichts machen und wusste nicht, was er tun sollte. Schließlich betreute er ein paar Juniorenspieler, die von seinen Eltern ab und zu trainiert wurden, bei Future-Turnieren.
Absturz nach Verletzungen
"Wir sind durch Kleinstädte getingelt, irgendwo in Südtexas", erinnert sich Zverev, der in seiner Karriere schon alle Metropolen der Welt gesehen hatte, "wir wohnten in billigen Hotels und aßen bei Subway. Bei solchen Turnieren gibt's ja nichts, nicht mal Verpflegung." Und in diesen trostlosen Wochen merkte Zverev, wie sehr ihm das Tennis fehlte. Wie gerne er selbst wieder spielen wollte und zwar endlich richtig.
Vor zehn Jahren galt er als eines der hoch gehandelten Talente, ein Linkshänder, der mit seinem Serve-and-Volley-Stil immer ein bisschen wie aus der Zeit gefallen zu sein schien. Doch der Hamburger mit den russischen Wurzeln konnte die Erwartungen nicht erfüllen. Sein Bruder Alexander "Sascha", mit 19 Jahren heute so alt, wie er damals, hat ihn längst überflügelt. Ein Jahrzehnt
Der kleine Bruder als Zugpferd
Bei den Australian Open nun hat sich Zverev zurückgemeldet, mit 29 Jahren. Und mit einem Sieg über den Weltranglistenersten Andy Murray, spektakulärer ging es ja kaum. Jetzt spielt Zverev gegen Roger Federer sein erstes Viertelfinale bei einem Grand Slam, und das immerhin hat sein kleiner Bruder noch nicht geschafft. Doch Alexander Zverev ist wohl der gewichtigste Grund, dass er den Neustart überhaupt noch gewagt hat.
"Mein Bruder hat immer an mich geglaubt", erzählt Mischa Zverev, "als mein Handgelenk operiert wurde, sagte er mir: 'Du kannst es zurückschaffen, ganz sicher.'" Im Winter 2014 war der Gips dann ab und die Brüder bereiteten sich in Florida gemeinsam auf die neue Saison vor. Der Familienbetrieb der Zverevs hatte sich neben den Eltern Irina und Alexander Senior, ehemaligen Tennisprofis, dabei schon um Murrays ehemaligen Fitnesstrainer Jez Green erweitert. Inzwischen gehört mit Hugo Gravil auch ein früherer Physiotherapeut der ATP-Tour dazu. Das Umfeld war für den aufstrebenden Teenager Alexander immer weiter professionalisiert worden, doch Mischa Zverev profitierte nun auch davon.
Konkurrenzkampf auf Schritt und Tritt
Und die Erfolge seines kleinen Bruders spornten ihn ungemein an. Trotz des Altersunterschieds passt kein Blatt zwischen sie, aber das Kräftemessen brauchen sie einfach. "Bei uns ist jeden Tag Konkurrenzkampf", erzählt Mischa Zverev: "Es geht immer nur darum: Wer hat mehr Frikadellen gegessen? Wer hat mehr Gewicht gehoben? Wer ist schneller gelaufen?" Der Kleine schlägt ihn inzwischen beim 140-Kilo-Stemmen, dafür läuft der Große schneller.
"Er ist zwar jünger, aber ich will ja trotzdem nicht schlechter sein", sagt Mischa Zverev und grinst. Und so fand er den Antrieb für die mühsame Rückkehr auf die Tour, sein Ranking war mit Platz 1067 zum Saisonbeginn 2015 kaum mehr existent. Neustart von ganz unten. "Ich musste wohl erst auf dem Boden aufschlagen, um zu merken, wie viel mir Tennis bedeutet", sagt er rückblickend.
Ende 2016 ging es endlich aufwärts
Aber er bedauert nichts, sagt Zverev. "Ich habe viel erlebt in den letzten zehn Jahren, auf dem Platz und vor allem außerhalb." Und das war ihm wichtig. Er wollte als Persönlichkeit reifen, seine Erfahrungen als junger Mensch sammeln und "nicht erst mit 35 nach der Karriere alles nachholen" müssen. "Ich habe nicht gefeiert und getrunken", wiegelt Zverev ab. Dieser Typ ist der sympathische Hamburger nicht. Doch er hatte sich in Beziehungen ausgelebt und dabei manches erlebt.
"Ich habe einiges hinter mir", sagt er, ohne ins Detail zu gehen, "und das ließ sich teilweise schlecht mit dem Tennis verbinden." Nur 17 Mal spielte Zverev seit 2007 bei einem der vier Grand Slams mit. Zwischen den French Open 2012 und den US Open im vergangenen Sommer hatte er es nicht mal mehr ins Hauptfeld eines Major-Turniers geschafft. Die zweite Runde in New York war sein erster Erfolg nach der Verletzung. Da stand Zverev noch auf Rang 150.
Gratulationen von allen Seiten
"Vom Gefühl wurde mein Spiel besser. Ich war sehr fokussiert, ich wollte es unbedingt", sagt Zverev. Mit Erfolg: Schon am Saisonende kletterte er auf Rang 50, nach den Australian Open steht er mit mindestens Platz 35 so hoch wie nie. Der lange Atem wurde belohnt. Und mit jeder Runde in Melbourne geht der Rausch, das ungläubige Staunen und die Gratulationen weiter.
Auch Federer hatte ihn nach dem Sieg über Murray beglückwünscht. "Das war ein unglaublicher Erfolg für Mischa, und das hat mich sehr gefreut", sagte der 35 Jahre alte Schweizer, "mir tat es leid, wie lange er verletzt war. Jetzt ist es mir auch so ergangen, umso schöner, dass wir beide so weit im Turnier gekommen sind." Für einen von beiden geht das rauschende Comeback Down Under jedoch zu Ende.