Am Tag nach dem Kraftakt gegen China (1:0) kann die deutsche Frauen-Nationalmannschaft nicht mal die Wunden lecken, sondern reist für das zweite WM-Gruppenspiel nach Lille weiter. Gegen Spanien (Mittwoch 18 Uhr/live ZDF) droht der Ausfall von Spielmacherin Dzsenifer Marozsan.
Vielleicht kommt die Luftveränderung genau zur rechten Zeit: Der Tag nach dem 1:0 (0:0)-Kraftakt gegen China zum WM-Auftakt stand bei der deutschen Frauen-Nationalmannschaft im Zeichen des Quartierwechsels. Das Golfresort in der Gemeinde Bruz im Großraum von Rennes musste am Morgen geräumt werden, damit die Reise über 600 Kilometer nach Lille in Richtung belgische Grenze im Schnellzug TGV erfolgen konnte. Ein Stadthotel in der Universitätsstadt mit flämischer Prägung wird nun zum Domizil.
Valenciennes, der Spielort für das zweite WM-Gruppenspiel gegen Spanien (Mittwoch 18 Uhr/live ZDF), ist dann noch einmal ein gutes Stück entfernt, aber Spielplan und Unterbringung hat der Weltverband Fifa festgelegt. Viel lieber hätten die DFB-Frauen am Pfingstsonntag wohl vor der zweiten Etappe ihrer "Tour de France" ihre Wunden geleckt.
"Waren grenzwertige Sachen dabei"
Nationaltorhüterin Almuth Schult konnte sich in jüngerer Vergangenheit nicht an ein Länderspiel erinnern, in dem es derart rustikal zuging. "Die Chinesinnen haben ordentlich zugelangt. Das hat jeder gesehen. Da waren grenzwertige Sachen dabei, mit auf die Füße treten oder in den Gegner reinspringen", sagte Schult nach der Partie im Gespräch mit dem ZDFsport.
So überzeugte das deutsche Team nur die ersten 20 Minuten, ehe sie in einer unruhigen, weil ruppigen Begegnung vollends den Faden verlor. Es brauchte den Vollspannstoß von Giulia Gwinn nach 66 Minuten, um wenigstens das Ergebnis erfreulich zu gestalten. "Das gelingt mir kein zweites Mal", räumte die 19-jährige Matchwinnerin ein, die den Abnutzungskampf vor 15.283 Zuschauern prägnant zusammenfasste: "Wir hatten Höhen und Tiefen in unserem Spiel, wir haben viel auf die Socken bekommen. Aber was zählt, sind die drei Punkte." Das Siegeszeichen, das die stark spielende und nur zur Schonung im weiteren Turnierverlauf ausgewechselte Melanie Leupolz beim Einsteigen in den Mannschaftsbus machte, könnte trügerisch gewesen sein.
Mal wieder hat es Dzsenifer Marozsan erwischt
"Wenige sind hier ohne Blessuren rausgekommen", konstatierte Martina Voss-Tecklenburg betrübt im Roazhon Park von Rennes und zählte ein halbes Dutzend angeschlagener Spielerinnen auf. Darunter mit Dzsenifer Marozsan ihr fußballerische Fixpunkt. Bereits nach zwölf Minuten wurde die Spielmacherin von Shanshan Wang mit dem gestreckten Bein angegangen. "Der Fuß sieht nicht gut aus", berichtete die Bundestrainerin. Es könnten Bänder des Sprunggelenks betroffen sein.
Sollte die Starspielerin von Olympique Lyon ausfallen, wäre das ihre dritte WM-Verletzung. 2011 in Deutschland fiel sie mit einem Innenbandriss kurz vor dem Turnier aus, 2015 knickte sie in Kanada im Training auf dem Kunstrasen so böse um, dass sie nie zur gewohnten Form fand. Auch unter diesem Eindruck rügte Voss-Tecklenburg: "Das war schon grenzwertig." Gleichwohl räumte die 51-Jährige ein: "Wir haben uns in diesem Spieler selber rausgebraucht durch eigene Fehler, nicht nur durch die Härte – das wäre mir zu einfach."
Schwachpunkt Sara Doorsoun
Es gibt nämlich ein anderes Kernproblem: So viel Selbstbewusstsein steckt in ihrem Ensemble womöglich doch nicht, wie der selbstironische Werbespot vermittelt. "Das sind wichtige Erfahrungen. Eine WM ist doch noch einmal etwas anderes. Positiv ist, dass wir bereit waren, uns durchzubeißen", sagte Voss-Tecklenburg.
Dass ausgerechnet die 27-jährige Sara Doorsoun, die mit ihrem Wechsel zum VfL Wolfsburg den persönlichen Reifeprozess vorantreiben wollte, Querpässe einstreute, die selbst Voss-Tecklenburg als absolutes "No-Go" rüffelte, war verwunderlich. Vermutlich ist Lena Goeßling mit 33 Jahren und 105 Länderspielen die sichere Variante, zumal die Defensivallrounderin auch im Verein in wichtigen Spielen nicht grundlos den Vorzug vor Doorsoun erhält.
Hoffnungsträgerin Lena Sophie Oberdorf
Oder aber wird Allzweckwaffe Lena Sophie Oberdorf zur Lösung? Nach ihrer Einwechslung avancierte das Toptalent mit 17 Jahren, fünf Monaten und 20 Tagen zur jüngsten deutschen WM-Spielerin aller Zeiten und kam erst im defensiven Mittelfeld, dann in der Abwehrzentrale zum Einsatz. Allein ihre physische Präsenz entfaltete eine stabilisierende Wirkung. Gut möglich, dass Oberdorf schon im zweiten WM-Spiel gegen Spanien zur Startelf gehört, die am Samstag einen mühevollen 3:1-Pflichtsieg gegen Südafrika verbuchten.
Erstaunlich, wie unaufgeregt das Nesthäkchen ihren Auftrag erledigte. "Mir sagen viele, dass ich nicht nervös rüberkomme, aber innerlich ist es eine andere Geschichte. Auf dem Platz legt sich das zügig." Die Vorgabe, Präsenz im Zentrum zeigen und Ruhe reinzubringen, erledigte sie in ihrem erst vierten Länderspiel tadellos.
Noch am Donnerstag schrieb die Gymnasiastin im Teamhotel eine Klausur in ihrem Leistungsfach Sport zum Thema Muskelphysiologie. "Definitiv war das Spiel schwieriger. Ich bin ja gut in der Schule", erzählte Oberdorf mit einem breiten Grinsen. "Spaß beiseite: Für eine Klausur kann man lernen, man weiß was drankommt und kann das hinschreiben. Auf dem Platz passieren Sachen, mit denen man nicht gerechnet hat."