Die EM-Qualifikation gilt im kommenden Länderspieljahr fast schon als Formsache. Denn der Blick der Verantwortlichen geht für die deutsche Nationalmannschaft schon bis zur EM 2020. Langfristig erscheint die Zukunft allerdings nicht allzu rosig.
Es war ein ungemütlicher Novemberabend, als das Publikum die Arena auf Schalke nach dem letzten Länderspiel ziemlich erschrocken und fast fluchtartig verließ. Vor nicht ausverkauftem Haus hatte die deutsche Fußball-Nationalmannschaft in der Schlussphase einen 2:0-Vorsprung gegen die Niederlande noch verspielt, und das unschöne Ende - womit Deutschland sieglos aus der A-Kategorie der Nations League abstieg - passte gut zu einem "enttäuschenden Jahr", wie Joachim Löw es nannte.
Mit "gutem Gefühl" in die Pause
Gleichwohl: Viel mehr Unmut ließ der Bundestrainer damals auf der Pressekonferenz nicht zu. Sondern der 58-Jährige konstatierte tapfer: "Ich gehe mit einem guten Gefühl in die Winterpause. Wir können wieder positiv nach vorne schauen." Oder: "Ich bin kein Hellseher. Aber mein Gefühl sagt mir, dass wir auf einem guten Weg sind, um wieder erfolgreichen Fußball zu spielen."
Es brauchte am Ende des historisch schlechten Abschneidens vor allem Löw’sches Bauchgefühl, um solch unerschütterlichen Optimismus vorzuleben. Im Spiel gegen Holland habe mehr Positives als Negatives" gesehen, sagte er im ZDF.
EM-Qualifikation keine Hürde
Wie positiv sind wirklich die Perspektiven für eine DFB-Auswahl, die sich im FIFA-Ranking hinter Uruguay, Schweiz und Dänemark, hinter Kolumbien, Chile oder Schweden wiederfindet?
DFB-Boss Reinhard Grindel findet, in den Länderspielen gegen Russland (3:0) und die Niederlande (2:2) habe sich "eine Mannschaft mit einem neuen Gesicht präsentiert, die attraktiven Fußball spielen will. Deswegen können wir selbstbewusst in die Qualifikation zur EM 2020 gehen".
Die Zulassung zur über halb Europa verteilten Endrunde hatte Löw unabhängig von der Ziehung am 2. Dezember versprochen, doch als die Lose dann im Convention Center von Dublin gezogen waren, durfte sich der Fußballlehrer bestätigt fühlen. Bis auf den ewigen Rivalen Niederlande, auf den Deutschland gleich im ersten Qualifikationsspiel am 24. März 2019 in Amsterdam trifft, sind die restlichen Gegner eher Leichtgewichte. Weder Nordirland (Weltranglistenplatz 35) und erst recht nicht Weißrussland (76.) und Estland (96) dürften zum Stolperstein werden.
Jahrgänge 1995/1996 rücken in die Verantwortung
Der Gruppenerste und -zweite qualifizieren sich direkt für die EM 2020, bei der die DFB-Auswahl mindestens zwei Heimspiele in München hat.
Eingedenk der recht komfortablen Konstellation will Löw sich "zwei wichtigen Themen" gleichzeitig widmen: "Die Qualifikation schaffen und den jungen Spielern Raum geben, um sich zu entwickeln, ihnen langsam Verantwortung übertragen mit Blick auf 2020." Dieser Spagat sei nicht allzu schwierig. Vom EM-Titel redet Löw tunlichst (noch) nicht.
Schlüsselrollen bei der Langzeitentwicklung kommt laut dem Bundestrainer den Jahrgängen 1995/1996 zu. Joshua Kimmich, Niklas Süle, Thilo Kehrer, Leon Goretzka, Timo Werner, Leroy Sané oder Julian Brandt sind gemeint. Und dann ist da ja auch noch Kai Havertz, der als Toptalent eine besondere Förderung verdient. Bei dem erst 19 Jahre alten Leverkusener handelt es sich jedoch um eine Ausnahmeerscheinung im deutschen Fußball.
Probleme im Nachwuchsbereich
Denn die Personaldecke für den Spitzenbereich wird definitiv die nächsten Jahre dünner. Dortmunds Manager Michael Zorc betonte kürzlich, dass auf jeden guten deutschen Spieler heute bereits zwei Franzosen, zwei Engländer und zwei Spanier kämen. Im Nachwuchsbereich tun sich nicht nur Lücken auf den Problempositionen wie den Außenverteidiger oder bei den Mittelstürmern auf, sondern grundsätzlich wird es in den kommenden Jahren an Qualität fehlen.
U21-Nationaltrainer Stefan Kuntz sieht viel Gesprächsbedarf. Noch vor Weihnachten war der Nachwuchscoach, der 2017 den EM-Titel gewann und im kommenden Jahr mit seinem Team die Endrunde in Italien und San Marino spielt, auf Rundreise, um sich ein Meinungsbild bei mehreren Bundesligisten einzuholen.
Es werde den Talenten zu wenig Lebenserfahrung vermittelt. Kuntz schlägt zudem vor: "Die Individualität sollte mehr gefördert werden. Fangen wir später mit Tabellen an? Spielen wir lieber Drei-gegen-Drei, Vier-gegen-Vier, um mehr Ballkontakte zu arbeiten?"
"Zurück in die Weltspitze"
Auch Nationalmannschaftsmanager Oliver Bierhoff, der mit seiner Direktion Nationalmannschaften und Akademie im neuen Jahr eigene Bürogebäude im Frankfurter Stadtteil Niederrad bezieht, sieht raschen Handlungsbedarf. "Wir wollen in allen Bereichen zurück an die Weltspitze. Für die Zukunft stellen wir alles infrage."
Dabei geht es um ein ganzes Bündel an zukunftsweisenden Maßnahmen, die bis zur Basis reichen. Konkrete Vorschläge will seine Abteilung bis Februar machen, um letzten Ende die Wettbewerbsfähigkeit der Nationalmannschaft zu erhalten.
Auftakt gegen Serbien
Zunächst beginnt das neue Länderspieljahr am 20. März mit einem Freundschaftsspiel gegen Serbien. Ursprüngliche Wünsche von Löw, gegen Argentinien oder Brasilien zu testen, waren nicht zu realisieren. Gespielt wird gegen den WM-Teilnehmer mit etlichen Bundesligaspielern in Wolfsburg, was eine Verbeugung vor dem neuen Generalsponsor der Nationalmannschaft darstellt, den künftig der Automobilkonzern VW und nicht mehr Mercedes-Benz bildet.
Mittelklassewagen statt Luxuskarosse - irgendwie kennzeichnet diese Veränderung ungewollt den Wertverfall der Nationalmannschaft im Jahr 2018.