An diesem Wochenende trafen Union Berlin und Hertha BSC in der Bundesliga zum ersten Mal aufeinander. Für die Hauptstadt war es weit mehr als ein klassisches Stadt-Derby, ganz besonders gilt das im 30. Jahr des Mauerfalls. Über das Berliner Fußballduell sprach ZDFsport.de mit der Historikerin Jutta Braun.
ZDFsport.de: Frau Braun, für Union-Präsident Dirk Zingler ist das Derby so etwas wie ein „Klassenkampf in der Stadt“. Ist es das wirklich?
Jutta Braun: Berlin war und ist immer noch ein besonderes Biotop, das gilt sicher auch für den Fußballsport. Und der Union-Präsident spielt da gerne und medienwirksam die Klaviatur des Kalten Krieges. Hertha hält sich hingegen in der Tonlage bemerkenswert vornehm zurück. Aber natürlich hat das Berliner Derby einen besonderen sportlichen wie gesellschaftlichen Reiz für beide Teams. Schon allein deshalb, weil die Mauer über Jahrzehnte ein solches Spiel in der 1. Bundesliga verhindert hat.
ZDFsport.de: Hertha wollte das Match am 9. November austragen, der Tag des Mauerfalls. Union war strikt dagegen...
Jutta Braun: Union geht in diesem Aufstiegsjahr eindeutig nicht auf Kuschelkurs zu Hertha BSC. Das ist aber wohl der sportliche Normalzustand vor einem Derby. Man möchte alle Kräfte mobilisieren und die Fans ordentlich anheizen.
ZDFsport.de: Zu Zeiten der Mauer hingegen verband die beiden Klubs eine ziemlich feste Freundschaft, oder?
Jutta Braun: Ja, das ist auch besonders an diesem Spiel. Beide Vereine hatten nämlich Fans auf der anderen Seite. Es gab schon vor dem Mauerbau am 13. August 1961 viele Hertha-Fans in Ostberlin. Die Mauer konnte diese tiefe Zuneigung nie ganz zerstören. Die Fans tarnten sich als Rentner- oder Kleingartenverein, wenn sie sich in den Ostberliner Kneipen trafen. Offizielle Bundesliga-Fanklubs waren ja in der DDR verboten. Auf der anderen Seite der Mauer, im Westteil der Stadt, fanden sich regelmäßig Fußballanhänger der Hertha zusammen, die Union die Daumen drückten. Diese Ost-West-Fankontakte waren überaus stabil und wurden über Jahrzehnte mit viel Hingabe gepflegt.
ZDFsport.de: Wie sah das konkret aus?
Jutta Braun: Hertha BSC schickte an seine Ostfans regelmäßig sogenannte „Liebesgaben“. Das waren Spenden mit Fußballbezug. Hertha-Fans besuchten die Union-Spiele in der Ostberliner Wuhlheide. Die Union-Fans mit Hertha-Bezug reisten zahlreich in die DDR- und osteuropäische Stadien, wenn dort Hertha kickte. Zum Beispiel 1978 gegen Dynamo Dresden oder im UEFA-Viertelfinale bei Dukla Prag ein Jahr später. Es wurden sogar Lieder von Hertha-Fans zu Ehren von Union komponiert und getextet. Die Titel muten heute komisch an, entsprachen aber dem damaligen Zeitgeist : „Freunde hinter Stacheldraht“ oder „Es gibt nur zwei Mannschaften an der Spree – Union und Hertha BSC“. Zudem produzierte man diverse Fandevotionalien mit beiden Vereinslogos drauf und vieles mehr. So etwas festigte den Zusammenhalt.
ZDFsport.de: Irgendwann brach aber die Freundschaft auseinander. Woran lag es?
Jutta Braun: So schnell ging es ja auch wieder nicht. Zunächst wurde am 27. Januar 1990 im West-Berliner Olympiastadion das sogenannte „Wiedervereinigungsspiel“ zwischen Hertha und Union ausgetragen. Es gilt als das Symbol des Mauerfalls im deutschen Fußball. Da lagen sich die Anhänger der beiden Vereine noch friedlich in den Armen und weinten. Hertha gewann das Spiel 2:1 vor über 50.000 Zuschauern. Es war übrigens das erste Spiel für Union ohne Stasi-Beobachtung.
ZDFsport.de: Union legte in der Folge mehr Wert auf seine besondere Geschichte im DDR-Fußball.
Jutta Braun: Richtig! Union galt immer als das Sammelbecken für DDR-kritische Leute. Im Stasi-Jargon hieß diese Gruppe „negative Anhänger“, also Punks, Hippies, Menschen aus kirchlichen Kreisen und einige andere mit Spaß an der Provokation, im Stadion wie außerhalb. Union besann sich nach dem Mauerfall verstärkt auf seine Sonderrolle im DDR-Fußball. Der Verein profitiert bis heute von der innigen Solidarität seiner Fans zum Klub, die noch aus der DDR-Zeit stammt. Gleichzeitig aber verschwand unter anderem dank dieser Rückbesinnung die historische Freundschaft zu Hertha. An die kann sich heute leider kaum noch jemand erinnern.
Tagung in Berlin im Januar
Dr. Jutta Braun, 52, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und Vorsitzende des Zentrums Deutsche Sportgeschichte Potsdam. Am 23. Januar 2020 findet eine Tagung zum „Wiedervereinigungsspiel“ mit Hertha und Union Fans und den beiden damaligen Mannschaftskapitänen in der Berliner Kulturbrauerei statt. Jutta Braun ist daran beteiligt. Das Treffen wird vom Berliner Beauftragten für die Aufarbeitung der SED-Diktatur veranstaltet.
Das Interview führte Torsten Haselbauer.