Innerhalb von nur drei Monaten wird aus dem Polizistensohn Dominic der radikale Salafist Musa. Statt zu kiffen, liest er den Koran. Statt feiern zu gehen, pilgert er nach Mekka. Statt seine Jugendliebe zu treffen, heiratet er eine Fremde. Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens landet der 17-Jährige beim radikalen Islam.
Das war 2005. Acht Jahre später steigt Musa aus der salafistischen Szene aus. Gerade noch rechtzeitig – ehemalige "Brüder" kämpfen mittlerweile beim selbst erklärten Islamischen Staat. Musa dagegen heißt wieder Dominic. "Das war alles verschwendete Zeit", sagt er heute. Nun erzählt der mittlerweile 29-Jährige seine Geschichte, um andere Jugendliche zu warnen.
Das ist nötiger denn je - die Zahl radikaler Salafisten in Deutschland steigt seit Jahren. Warum radikalisieren sich junge Menschen, was können Staat und Gesellschaft dagegen tun?
Dieser Frage geht auch ein ZDFneo-Mehrteiler nach: "Bruder – Schwarze Macht" handelt von der IS-Radikalisierung des heranwachsenden Deutschtürken Melih und von seiner älteren Schwester Sibel, die versucht, ihn aus dem salafistischen Milieu zu holen. Die Dramaserie wird aus der Perspektive von Sibel, einer gut integrierten Polizistin, erzählt.
Faktoren der Radikalisierung
Es ist ein normaler Tag im Leben des 17-jährigen Dominic – seit er die Berufsschule abgebrochen hat, hängt er zu Hause herum, hört Musik, kifft. Dann klopft Rachid an das Fenster, ein alter Freund.
Ein Jahr war Rachid verschwunden. Früher rappten die beiden zusammen. Jetzt erzählt Rachid auf einmal von seiner Religion, dem Islam, den er in Marokko wiederentdeckt habe. Fast täglich kommt er nun zu Dominic, bringt Broschüren mit, trägt Suren aus dem Koran vor.
Heute weiß Dominic: Was sein alter Freund damals gemacht hat, ist die "Dawa", die Missionierung von Ungläubigen. Und Dominic war leichte Beute.
Nur wenige Wochen später geht Dominic mit in die Moschee. Er ist beeindruckt: Der Freund kifft nicht mehr, der Glauben gibt Rachids Leben Halt. Dominic ist empfänglich, sucht nach Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Lebens – und wird sie von nun an im Salafismus finden.
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Salafisten machen einen kleinen Teil aller Muslime aus. Bart, Gewand und Kappe zeigen: Sie wollen leben wie vor 1.400 Jahren.
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Vorreiter der Islamisten sind die Muslimbrüder. Islamisten wollen das System verändern - aber nicht jeder Islamist ist gleich Salafist.
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Manche Salafisten werden zu Dschihadisten - und ziehen in den Kampf. Der Islamische Staat hat die Führungsrolle übernommen.
Dominics Leben war typisch für junge Menschen, die zu Salafisten werden. Es gebe nicht das eine Profil, sagt Raid Sabbah, der das Drehbuch vom ZDFneo-Mehrteiler "Bruder" geschrieben hat, "aber es gibt typische Faktoren."
Dominic hatte keinen Kontakt mehr zu seinem Vater, die Eltern hatten sich früh getrennt. Wer zu keiner Vaterfigur aufblicken kann, findet unter Umständen in Gott eine neue. Kinder von Einwanderern haben oft damit zu kämpfen, dass der Vater zwar da ist, aber keine Orientierung bietet. Geringe Sprachkenntnisse und ein schlechter Job widersprechen dem Selbstbild des Familienvaters, der alles unter Kontrolle hat. Die Jugendlichen schämen sich dafür, in Gott finden sie einen erhabenen Ersatz.
Das allein erklärt jedoch nicht, warum sich junge Menschen radikalisieren. Wichtig sei der Umgang mit Identität, so Sabbah. Jugendliche seien auf der Suche nach Zugehörigkeit: "Wenn von außen an mich herangetragen wird, du bist Kanacke, dann sehe ich mich auch so." Und dann suchten sie in dieser Andersartigkeit ihr neues Zuhause, wenden sich von deutschen Gesellschaft ab.
Dominic Schmitz hätte das nicht nötig gehabt, seine Eltern sind Katholiken, in Deutschland gehörte er dazu. Doch besonders diese Normalität ging ihm auf die Nerven. „Ich habe mich gefragt, was das für ein Leben werden soll, Schule, Arbeit, Rente. Wozu, was ist der Sinn?“ Die Freiheit, alles machen zu können, unüberschaubare Optionen, hat ihn überfordert. Die salafistische Religionsinterpretation gab ihm endlich Antworten. Hier gab es kein Zweifeln mehr, sondern "richtig" und "falsch". So kann auch aus einem Jungen aus gutbürgerlichem Hause ein Salafist werden.
Kriminell und Salafist
Der Normalfall unter Salafisten sind nicht die Klavierschüler und Kant-Leser. "Die Regel war schon: Drogenvergangenheit, Kriminalität, Schulabbruch", sagt Dominic über seine Moscheegemeinde. Der Salafismus dient vielen als Lösung, die ein eher verkorkstes Leben hinter sich haben.
"Egal ob Drogenjunkie oder nicht, jeder ist willkommen – das ist in der anderen Welt nicht so", sagt Dominic. Denn Gott eröffnet die Chance auf Wiedergutmachung. Wer sich daran hält, dem wird vergeben. Das ist attraktiv für Menschen, die im Leben draußen keinerlei Anerkennung mehr erfahren.
Letztlich sind es auch ähnliche Prozesse, die Menschen entweder ins kriminelle Milieu oder eben in den Salafismus treiben, sagt Julia Ebner. Sie forscht in London zu Extremismus und sagt, dass diese Zusammenhänge bislang unterschätzt werden.
Wer sich in einer Identitätskrise befindet, sich von der Gesellschaft ausgeschlossen fühlt und frustriert ist von Politik und der eigenen Lage, kann in Kriminalität oder Religion einen Ausweg sehen. "Gerade im Gefängnis bieten inhaftierte Terroristen ihren Mithäftlingen den Salafismus als Alternative an", sagt Ebner. Salafisten griffen außerdem auf das kriminelle Milieu zurück, um Waffen zu beschaffen oder durch Warenschmuggel Geld zu verdienen.
Die Zusammenhänge lassen sich mit Zahlen belegen. Das Bundeskriminalamt untersuchte die Hintergründe von 778 Personen, die bis zum Juni 2016 zum Islamischen Staat (IS) ausgereist sind. Ergebnis: Zwei Drittel waren bereits polizeilich aufgefallen, die meisten durch Gewalt- und Eigentumsdelikte.
So divers die Wege in den Salafismus auch sind - wer kriminell ist, findet in der Gesellschaft kaum noch einen Platz. In der salafistischen Gemeinde hingegen ist er willkommen.
Salafistische Szene - Die neuen Brüder
Von Dominics ersten Kontakt zum Islam bis zum ersten Moschee-Besuch vergehen nur wenige Wochen – und sofort ziehen die neuen Brüder Dominic in den Bann. "Ich wollte ein perfekter Moslem werden", sagt er. Von der Brüderlichkeit ist er begeistert, nach dem Freitagsgebet wird von einem Teller gegessen.
Gleich beim ersten Moschee-Besuch trifft Dominic auf Sven Lau, ein damals noch unbekannter Prediger. Lau wird zum Vertrauten für Dominic. Er kann sich ihm offenbaren, über Sinnfragen diskutieren, später pilgern sie gemeinsam nach Mekka. Dominic findet die enge Gemeinschaft, die er immer gesucht hat.
Dominic kann nicht wissen, dass seine neue Gemeinde gar nicht "den" Islam vertritt, sondern mit dem Salafismus eine radikale Strömung innerhalb der Religion. Er unterwirft sich den strengen Regeln, zu einem hohen Preis, sagt er: "Der Konvertit verzichtet auf unheimlich viel, was vorher normal war: Freundin, Musik, Spaß."
Seine Jugendfreundin trennt sich, weil sie nicht konvertieren will. Später lässt sich Dominic deswegen eine neue Frau vermitteln, eine Glaubensschwester, und heiratet sie nach nur einer Woche. Während Dominics Abkehr vom Salafismus zerbricht die Ehe, doch heute hat Dominic wieder Kontakt zu den zwei Kindern aus der Ehe.
Mit der für ihn eigentlich Unbekannten und seinen neuen Brüdern entfernt sich Dominic zusehends aus seinem alten Leben: "Man kapselt sich vom normalen Leben ab und wechselt in ein Paralleluniversum." Gemeinsam mit dem Prediger und Aktivisten Sven Lau produziert er Videos, um zu missionieren. In den Fußgängerzonen rund um Mönchengladbach verteilen sie Korane, gründen mit anderen jungen Muslimen eine eigene Moschee.
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Der Prediger aus dem Rheinland nennt sich „Abu Hamza“. Bekannt wurde er durch Internet-Videos.
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Lau alias "Abu Adam" weiß, wie man provoziert: Sogar Kanzlerin Merkel äußerte sich zu seinem Auftritt als Scharia-Polizist.
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Der Iraker ist unter dem Namen „Abu Walaa“ bekannt. Er steht vor Gericht, weil er Dutzende Muslime zur Ausreise nach Syrien gebracht haben soll.
Schnell trifft Dominic auch auf Pierre Vogel, den bekannten Internet-Prediger – und wird vor dessen Kamera gezerrt. Vogel gibt Dominic einen neuen Namen, Musa, und befragt ihn über seinen Weg zum Islam. Das Video ist noch heute online und zeigt, wie verunsichert und gleichzeitig stolz Dominic damals auf seinen Lebenswandel ist.
2005 ist die salafistische Gemeinde in Deutschland noch relativ klein. Doch mittlerweile leben hier 10.300 Salafisten hier, so der Verfassungsschutz. Und: "Die Szene wächst weiter", sagt Elmar Theveßen, Terrorismusexperte des ZDF.
Nur ein Teil der Szene ist gewaltbereit. Dieser Teil ist jedoch besonders gefährlich, da er sehr eng vernetzt ist, sich um einzelne radikale Prediger versammelt und von außen kaum Einblick für die Sicherheitsbehörden bietet. Das liegt auch an verschlüsselten Messenger-Diensten, die vermehrt eingesetzt werden. Zudem steht das Internet im Zentrum der Bemühungen, neue Anhänger zu finden. Jugendliche radikalisieren sich deswegen zu Hause, vor dem Laptop, anfangs noch weitgehend unbemerkt.
Experten sagen jedoch: Die wirkliche Radikalisierung funktioniert erst über soziale Kontakte. Umso wichtiger sind die sozialen Medien, weil junge Anhänger dort direkt mit den charismatischen Predigern in Kontakt kommen können.
Quelle: BMI
Ausstieg und Deradikalisierung
Bis 2010 ist Dominic in der salafistischen Szene von Mönchengladbach aktiv. Doch schon währenddessen fängt er wieder an zu kiffen, hört Musik, vernachlässigt das Beten – für Salafisten streng verboten.
Doch er fängt an zu zweifeln. "Mir wurde einfach klar: Ich war ein empathieloser Roboter, der Buchstaben gefolgt ist."
Vor allem die zunehmende Aggression in der Szene stößt ihn ab. Auch die Unterdrückung von Frauen passt nicht so recht in sein Weltbild. Mit zunehmendem Alter setzt sich Dominic kritischer mit der Ideologie auseinander, die er lange Zeit offensiv nach außen vertreten hat.
Noch vor 2010 lädt er Youtube-Videos unter seinem Namen Musa hoch und versucht zu missionieren. Doch ab 2010 werden die Videos kritischer, Dominic zieht sich aus der Moschee zurück, seine Frau und er trennen sich. Schlüssel-Erlebnis ist eine Schulung, die er als Arbeitsloser besuchen muss. Ein Lehrer sagt ihm: "Werde die Brücke zwischen dem Islam und der Gesellschaft, um zu vermitteln!" Den Satz vergisst Dominic nie.
Drei weitere Jahre versteht sich Dominic als Salafist, aber er wendet sich anderen Menschen wieder zu, diskutiert offen, nimmt von Dogmen Abstand. Dann kommt 2013 der Bart ab. Dominic bleibt Muslim, aber nicht Salafist. Sein Ausstieg kommt gerade rechtzeitig, ehemals gute Freunde ziehen nur kurze Zeit später unter der Flagge des IS in den Dschihad, nach Syrien.
Dass sich Dominic so schnell radikalisiert hatte, wird nun zum Vorteil: Wer ideologisch weniger gefestigt ist, kann sich einfacher hinterfragen. Gerade für Konvertiten steht die Tür zur Deradikalisierung immer offen.
Dabei helfen Menschen wie Husamuddin Meyer. Als Imam und Seelsorger ist er im Wiesbadener Gefängnis unterwegs und will junge Menschen vom Weg der Gewalt abbringen.
Meyer sieht sich selbst in zwei Rollen: Einerseits ist er Islamlehrer, bringt jungen Muslimen ihre Religion näher. Einige kannten bislang lediglich den Salafismus als den wahren Islam, außerhalb der Szene hat ihnen keiner die Religion erklärt. Deutschsprachige Angebote in Schulen und Moscheen fehlen oft.
Andererseits ist Meyer auch Seelsorger und kümmert sich um persönliche Probleme, abseits von religiösen Fragen. Mittlerweile gibt es noch viele andere Möglichkeiten, Hilfe zu finden. Der Bund fördert etliche Beratungsstellen, auch die Bundesländer bauen Strukturen auf. Die Erfahrungen mit der Deradikalisierung von Salafisten wachsen, genauso mit dem Ausstieg aus der radikalen Szene.
"Lange wurden wir immer nur zu den Jugendlichen gerufen", kritisiert Meyer. "Man ist gar nicht vorgegangen gegen die Ideologen, die überall Unheil angerichtet haben." Das hat sich nun geändert, mit Sven Lau sitzt ein Prediger hinter Gittern, Abu Walaa wiederum wird gerade der Prozess gemacht.
Das Potenzial an jungen Menschen, die sich in der deutschen Gesellschaft nicht aufgehoben fühlen, bleibt jedoch groß. Mit dem Einzug der Alternative für Deutschland in den Deutschen Bundestag könnte die Debatte um junge Muslime nochmals schärfer werden und diese in die Arme radikaler Prediger treiben.
Dominic tourt jetzt durch Schulen, um Jugendliche genau davor zu bewahren. Er hat ein Buch geschrieben, geht in Talk-Shows. "Wenn Menschen mit mir gesprochen haben, war ich eine Wand", sagt Dominic. Doch er hat den Ausstieg rechtzeitig geschafft, weil er sich geöffnet und Widersprüche zugelassen hat. "Man selbst muss den ersten Schritt machen", sagt Dominic. Dann gibt es viele, die helfen können.