Recherche zum Film

In vielen Bereichen hat Corona unseren Blick auf die Gesellschaft verändert.

Jeder von uns kann von seinen ganz persönlichen Schlüsselerlebnissen erzählen. Bei mir war es die Begegnung mit einer Rollstuhlfahrerin auf einem der vielen Spaziergänge im Lockdown im letzten Jahr. Wir unterhielten uns nur ganz kurz und sie erzählte mir von ihrer zunehmenden Isolation und ihrer Angst vor einer Ansteckung, die für sie besonders schlimme Folgen hätte. Während in meiner Familie immerhin alle älteren Menschen schon einen Impftermin hatten, musste sie noch warten.

Mich hat das sehr beschäftigt, vor allem, weil mir klargeworden ist, wie wenig wir voneinander wissen und wie selten Begegnungen zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen stattfinden.  Erst bei meiner Recherche habe ich erfahren, dass bei uns fast acht Millionen Menschen mit einer schweren Behinderung leben. Obwohl das Wort Inklusion in aller Munde ist, werden sie oft ausgegrenzt, können nicht selbstbestimmt am Alltag teilnehmen.

Ich wollte Projekte finden, in denen Menschen mit und ohne Behinderung Bündnisse schmieden, um gemeinsam für Diversität und Wertschätzung, für Barrierefreiheit, Vielfalt im Kulturbetrieb, auf dem Arbeitsmarkt und beim Sport einzutreten. 

Viel gelernt habe ich von der 33-jährigen Adina Hermann, die seit ihrem 10. Lebensjahr im Rollstuhl sitzt. Sie arbeitet als Vorständin bei dem Berliner Verein „Sozialhelden“, der sich für die Rechte von Menschen mit Behinderungen einsetzt. Bei einem der ersten Telefonate habe ich sie gefragt, ob ich das Wort “Behinderung“ überhaupt benutzen soll oder es vielleicht verletzend sei. Adina meinte, das Gegenteil sei der Fall. Wer immer nur von „Menschen mit Einschränkungen“ spreche oder sagt “Wir haben ja alle eine kleine Behinderung“ verkenne und tabuisiere die persönliche Situation von Menschen mit Behinderungen.

Adina Hermann schilderte mir, wie Ausgrenzung durch fehlende Barrierefreiheit beginnt. Denn nur öffentliche Einrichtungen müssen barrierefrei sein, Restaurants, Geschäfte oder private Kulturveranstaltungen nicht. Deshalb haben die „Sozialhelden“ die Wheelmap App ins Leben gerufen. Mit Adina Hermann haben wir ein sogenanntes Mapping Event in Berlin gedreht. Diese Aktionen werden von den „Sozialhelden“ nicht nur in Deutschland, sondern inzwischen weltweit organisiert. Die Teilnehmer*innen suchen barrierefreie Orte und tragen sie in die Wheelmap ein, eine digitale Karte, die alle Menschen mit Rollstuhl oder Rollator für ihre Planung nutzen können. Das Tolle an dem Projekt ist, sagte Adina Hermann, dass jeder mitmachen kann und vor allem Menschen ohne Behinderungen durch die Teilnahme mal die Perspektive wechseln und für die alltäglichen Hindernisse sensibilisiert werden.

Die „Sozialhelden“ rufen immer neue Projekte ins Leben, um Teilhabe zu ermöglichen. Eine ihrer zentralen Forderungen: Bessere Chancen für Menschen auf dem ersten Arbeitsmarkt. Wir wollten wissen, wie das funktionieren kann und begleiteten Adina nach Münster in das Hotel am Wasserturm: Fast die Hälfte aller Mitarbeiter*innen dort hat eine schwere Behinderung, denn das Hotel ist ein Inklusionsbetrieb. Davon gibt es allerdings weniger als ein Prozent in ganz Deutschland. Adina unterhielt sich, unterstützt durch eine Gebärdensprachdolmetscherin, mit der gehörlosen Katharina Hübert und anderen Mitarbeitern*innen über ihre Erfahrungen. Viele mussten lange suchen, bevor sie im Hotel angestellt wurden. Es gibt Berührungsängste und Vorurteile bei den Arbeitgeber*innen und zu wenig staatliche Unterstützung für die berufliche Qualifikation. Deshalb sind sie doppelt so häufig arbeitslos wie Menschen ohne Behinderung. Aber alle, die uns begegnet sind, wollten arbeiten, ihr eigenes Geld verdienen und auf diese Weise unabhängig von Eltern oder sozialen Einrichtungen werden.

Wie das gelingen kann, habe ich Karin Langensiepen gefragt, die für die Grünen im EU-Parlament sitzt und dort die „erste Frau mit einer sichtbaren Behinderung“ ist, wie sie sich selber bezeichnet. Sie kritisiert die Abschottung und Nicht-Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderungen in Deutschland und ihren mangelhaften Zugang zum Arbeitsmarkt. Doch wo läuft es besser? Aus ihrem Büro bekam ich dann über einige Umwege Kontakt zu einem Verein in Österreich, der Menschen hilft, eine reguläre, fair bezahlte Arbeit zu finden. Im Tierpark in der Steiermark trafen wir den 19-jährigen Marcus Zellhofer. Nach der Schule konnte er keinen Ausbildungsplatz finden, weil er eine starke Lernbehinderung hat. Beim Verein Chance B erhält er nun gezielt Unterstützung und Förderung. Bei zahlreichen Praktika kann er ausprobieren, welcher Beruf am besten zu ihm passt und wird auch sozialpädagogisch intensiv begleitet, bis er einen Ausbildungsplatz findet. Die Arbeit in der Landschaftsgärtnerei des Tierparks hat ihm bis jetzt besonders gut gefallen. Uns hat überrascht, wie genau Marcus seine Situation, seine Stärken und Schwächen analysieren kann. Warum uns das überrascht? Vielleicht ist das ja typisch für Menschen ohne Behinderung, andere zu unterschätzen.

Schon am Telefon hat mich William Sanchéz mit dem Satz zum Nachdenken gebracht „Bei uns in Kolumbien kommen Eltern mit ihren behinderten Kindern und erzählen, was sie alles können, in Deutschland erzählen diese Eltern immer, was ihre Kinder nicht können“. William Sanchéz möchte, dass es auch bei uns kein Manko ist, anders zu sein. Deshalb hat er nach seinem Tanzstudium im Schwarzwald das internationale Tanzensemble Szene2 gegründet, in dem Menschen mit und ohne Behinderung zusammen tanzen. Wir trafen uns bei ihm zu Hause und lernten gleich Ricarda Noetzel, Jörg Beese und Matthieu kennen: Drei der Tänzer*innen mit Behinderung, die mit William und anderen in einer ganz normalen Wohngemeinschaft leben. Bei den Proben sahen wir, was für ein Potential alle Tänzer*innen haben und wie die unterschiedlichen Körper eine gemeinsame Geschichte erzählen. Auch das Kamerateam war beeindruckt, wie selbstverständlich hier Diversität im Kulturbetrieb gelingt. In unserem Film stehen Jörg, der das Down-Syndrom hat, und William im Mittelpunkt und wir bedauern sehr, dass aus zeitlichen Gründen nicht auch die anderen zu Wort kommen können. Denn alle wissen ganz genau um ihre Fähigkeiten und haben konkrete Zukunftspläne.  

Wir fragten uns, warum das alles noch „Leuchtturmprojekte“ sind. Warum ist das miteinander leben, arbeiten und tanzen nicht selbstverständlich? Wie kann man schon früh Gemeinsamkeiten fördern und Verständnis füreinander aufbauen? Die Antwort fanden wir bei Hermann Plagge im Emsland. Er leitet das Inklusionsprojekt beim Kreissportbund und hat sich dafür eingesetzt, dass es in der ganzen Region in allen Sportvereinen inklusive Angebote gibt. Über ihn lernten wir den FC Bayern München Fan Leon Bahns kennen. Fußball ist seine Leidenschaft, doch als Junge mit Down-Syndrom fand er lange keinen Verein, in dem er spielen durfte. Nun spielt er in der inklusiven Fußballmannschaft, dem Lünnis Soccer Team. Für Leons Geschmack dauerten unsere Vorgespräche dann viel zu lange. Er wollte endlich los und uns seine Mannschaft vorstellen. Beim Training konnten wir sehen, was uns Hermann Plagge vorher schon ankündigte „Jeder hat andere Qualitäten und Fähigkeiten und wenn man sich zusammentut, ist es für alle eine Bereicherung“. Hier steht nicht der Leistungsgedanke im Vordergrund, sondern der gemeinsame Spaß am Sport. Das verbindet.

Natürlich läuft es bei keinem der Projekte immer rund. Berührungsängste müssen abgebaut und Irritationen ausgehalten werden - wie überall, wo Menschen zusammenkommen. Mein Fazit nach den Dreharbeiten: Während wir in Deutschland momentan vielerorts auf Verbitterung und Wut treffen, hat mich beeindruckt, mit wie viel Souveränität und Humor Menschen mit Behinderungen für sich und andere eintreten. Obwohl ich inzwischen denke, ein bisschen Wut ist durchaus angebracht. Teilhabe ist schließlich ein Menschenrecht für alle und es ist nicht nur die Aufgabe von einigen wenigen Engagierten, sondern die der gesamten Gesellschaft und der Politik, Inklusion durchzusetzen.

von Angela Scheele

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