Warum Biden wahrlich klug handeln könnte | Terra-X-Kolumne

Philosoph*innen eilt der Ruf voraus, unverständig und praxisfern zu leben - während Politiker*innen als realistische, im Idealfall pragmatische Problemlöser*innen gelten. Die demokratische Partei der Vereinigten Staaten wird beweisen müssen, dass es so ist. Derzeit jedenfalls kämpft sie gegen ein Gespenst, dass den Westen seit zweieinhalbtausend Jahren plagt.

Fatalerweise, wenn die politischen Wirren zugenommen haben und die Krisen unübersehbar geworden sind, feiert der Geist des griechischen Philosophen Plato seine Auferstehung. In seiner politischen Theorie vertrat er die Auffassung, dass die Führung eines Staates in der Hand eines umfassend gebildeten - heute würde man sagen: elitären - Philosophen liegen solle (Frauen kamen damals nicht in Frage).

Ein solcher Mann müsste sich, nach heutigen Maßstäben, erfolgreich durch Universitäten und Parteigremien gearbeitet, Gegner geschlagen, seine umfassende Kompetenz bewiesen und schließlich die Stimmen der Mehrheit erhalten haben. Es ist kein Wunder, dass in der Geschichte Tyrannen und Autokraten, selten aber Demokraten die Idee eines solchen Philosophengottkönigs propagierten und umzusetzen versuchten.

Warum das so ist, erklärt der Philosoph Immanuel Kant in seiner Schrift vom ewigen Frieden. "Daß Könige philosophieren" schrieb er, "oder Philosophen Könige würden, ist nicht zu erwarten, aber auch nicht zu wünschen: weil der Besitz der Gewalt das freie Urteil der Vernunft unvermeidlich verdirbt."

Knapper kann man es nicht sagen. Was in der Theorie gut sein mag, verdorrt allzu oft in der heißen Sonne der Realität. Natürlich wäre es mit Plato durchaus wünschenswert, jemanden an der Spitze des Staates zu wissen, die oder der nicht nur clever und gerissen, sondern klug und weise ist. Allerdings zeigen psychologische Untersuchungen, wie die von Paul Baltes, dass Alter keineswegs weise macht - denn auch das Gegenteil kann eintreten.

Leider hat sich in der neoliberal orientierten Politik Amerikas die Meinung durchgesetzt, dass Klugheit nur darin besteht, Ziele und Zwecke durch die gerissene (oder wie man heute sagen würde: KI-gestützte) Wahl der Mittel zu erreichen. Dabei haben nicht nur Philosoph*innen, sondern in jüngster Zeit auch zahlreiche Wissenschaftler*innen darauf hingewiesen, dass es keine Klugheit ohne ethisches Bewusstsein geben kann. Das bedeutet, die eigenen Interessen nicht nur aus der Sicht der Selbsterhaltung zu betrachten, sondern sie in den Dienst einer nachhaltigen Entwicklung zu stellen, die allen zu Gute kommt.

Aristoteles, Platos Schüler und Kritiker, wies darauf hin, dass es keine Klugheit ohne gründliche Selbsterkenntnis geben kann. Klug sein kann nur, wer weiß, wer man ist, wo man steht, was man kann und was sich noch bewegen lässt.

Diese Bewegung wirkt beim amerikanischen Präsidenten zunehmend eingeschränkt. Es steht zu befürchten, dass nicht nur seine Gesundheit, sondern auch seine Selbstorientierungskompetenz in Denken, Handeln und im Leben an ihre Grenzen gekommen ist.

Würde der amerikanische Präsident auf eine erneute Kandidatur verzichten, wäre ihm der Respekt aller Demokraten dauerhaft sicher. Joe Biden hat bei genauem Hinsehen zweifellos viel erreicht in seiner Amtszeit: mehr als zu erwarten war. Und er hat den Weg geebnet, um Trump zu verhindern.

Beides wird bleiben. Nun aber geht es darum, weiterhin klug zu handeln. Und das verlangt, die Fähigkeit zur kritischen Selbstreflexion zu aktivieren. Sie ist eine notwendige Konstante, wenn es darum geht, Krisen zu bewältigen und - auch im politischen Sinn - gut zu handeln. Wer in der Politik arbeitet und in erster Linie an sich und seine Zukunft denkt, mag vorankommen und zunächst Karriere machen, verliert dabei aber zunehmend den Bezug zur Außenwelt.

Biden hätte eine grandiose Zukunft als Präsident vor sich, wenn er geht. Das wäre der entscheidende Eintrag im Geschichtsbuch, der ihm so wichtig erscheint. Weise zu sein beinhaltet, gut Abschied nehmen zu können. Ohne Abschiede keine gelungene Transformation. Das gilt auch für die Demokratie.

Auf unserer Themenseite können Sie alle Terra-X-Kolumnen nachlesen.