Was Wählerdaten über die USA verraten | Terra-X-Kolumne
Kolumne
Terra X - die Wissens-Kolumne:Was Wählerdaten über die USA verraten
von Jens Foell
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Wahlen sind nicht nur politisch, sondern offenbaren statistische Phänomene. Während die Polarisierung in den USA zunimmt, zeigt sich in Deutschland ein überraschendes Bild.
Üblicherweise beschäftigt man sich vor allem im politischen Ressort mit Wahlen, weniger in der Naturwissenschaft. Dabei lohnt es sich durchaus oft, einen statistischen Blick hinter aussagekräftige Zahlen zu werfen. Zum Beispiel, wenn es darum geht, dass die Wahlbeteiligung in den USA anteilig geringer ist als bei uns.
Im besten Fall geben dort etwa zwei Drittel der Wahlberechtigten eine Stimme ab. Dass man sich dort rechtzeitig für die Wahl registrieren muss und dass der Wahltag unter der Woche ist, könnten Gründe dafür sein.
In der Terra-X-Kolumne auf ZDFheute beschäftigen sich ZDF-Wissenschaftsjournalistinnen und -journalisten wie Harald Lesch, Mirko Drotschmann und Jasmina Neudecker sowie Gastexpert*innen jeden Sonntag mit großen Fragen der Wissenschaft - und welche Antworten die Forschung auf die Herausforderungen unserer Zeit bietet.
Ob eine niedrigere Wahlbeteiligung auch einen Einfluss auf das Ergebnis der Wahl hat, steht aber auf einem anderen Blatt: Statistisch verändert eine verminderte Wahlbeteiligung das Wahlergebnis nur dann, wenn sie nicht alle Wählenden gleichermaßen betrifft, sondern vor allem bestimmte Bevölkerungsgruppen und Regionen vom Wählen abhält.
Wann Nichtwähler wirklich entscheidend sind
Eine Analyse hunderter Millionen US-Wahldaten zeigt allerdings genau das. Es gibt Regionen, die von den Forschenden als Beteiligungswüsten bezeichnet werden - Gegenden, in denen die Wahlbeteiligung sehr viel niedriger ist als anderswo.
Und die Wahrscheinlichkeit, in einer von ihnen zu leben, ist bei Menschen mit afroamerikanischem oder hispanischem Hintergrund um mehr als das Dreifache erhöht. Da diese Minderheiten erfahrungsgemäß eher demokratisch wählen, schadet dieser Umstand bei der anstehenden Wahl eher Kamala Harris als Donald Trump.
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Wenn wenige viel entscheiden
Man darf auch nicht vergessen, dass eine Stimme je nach Staat eine unterschiedlich große Rolle bei der Präsidentschaftswahl spielt. Bei Kalifornien und Texas handelt es sich um Staaten mit besonders ausgeprägten Beteiligungswüsten - nicht überraschend, da sie parteiische Hochburgen sind: Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird Kalifornien in der Wahlnacht für Harris stimmen und Texas für Trump.
Wissenschaft misst politische Einigkeit - und findet das Gegenteil
Diese Probleme sind allerdings nicht neu. Was sich stattdessen in der jungen Vergangenheit in den USA auf besorgniserregende Weise verändert hat und sogar wissenschaftlich messbar ist, ist die gesellschaftliche und politische Polarisierung. Die Kluft zwischen den beiden großen Parteien wird auf jede messbare Art größer.
Journalistinnen und Wissenschaftler beleuchten in sechs Folgen die verhärteten Fronten der Parteien kurz vor den Präsidentschaftswahlen und die tiefe Spaltung der US-Gesellschaft.
Zusammenarbeit wird schwieriger, Rhetorik wird härter und persönliche Abneigung entsteht. Darstellungen dieser Polarisierung über die Jahre liefern ein gruseliges Bild einer schwindenden Mitte und mit erstarkenden extremen Rändern. Das zeigt sich auf mehreren Datenebenen, von Umfrageergebnissen bis zur gemeinsamen Befürwortung neuer Gesetze durch beide Parteien.
Wie entsteht starke Polarisierung?
Findet dieselbe Entwicklung gerade auch in Deutschland statt? Eine Studie von Soziolog*innen der Freien Universität Berlin und der Universität Bielefeld hat sich das angeschaut, indem sie über 800 gesellschaftlich relevante Fragen gestellt hat, zum Beispiel "Sollte die deutsche Regierung Kampfpanzer in die Ukraine schicken?" oder "Gehört der Islam zu Deutschland?".
Basierend auf der Verteilung der Antworten wurde jeder der Fragen ein Einigkeits-Score zugewiesen. Liegt er über null, sind sich die Deutschen bei dem Thema eher einig. Unter null gilt das Thema als polarisiert. Wie man erwarten würde, hat sich dabei gezeigt, dass Themen, die in den Medien präsenter sind, eine höhere Polarisierung aufweisen. Ebenso wenig überrascht, dass ein Thema vor allem dann polarisiert, wenn es mit Kosten verbunden ist.
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Deutschland ist sich einiger als erwartet
An anderer Stelle widersprechen die Ergebnisse allerdings den Hypothesen der Forschenden. Bei kulturellen Themen, zum Beispiel zu den Rechten von gleichgeschlechtlichen Paaren, herrscht eher Einigkeit als bei anderen. Themen über Minderheiten unterscheiden sich in ihrem Polarisierungsgrad nicht von anderen.
Insgesamt sind wir uns einiger als erwartet: Nur ein Fünftel der Themen gilt überhaupt als polarisiert und keines davon in starkem Ausmaß. Die am stärksten polarisierende Frage in Deutschland ist, ob man automatisch als Organspender registriert werden sollte oder nicht. Und darüber werden wir uns bestimmt irgendwie einig werden.
Das ist aber keine Entwarnung. Gesellschaftliche Polarisierung ist und bleibt ein wichtiges Thema, auf das wir alle ein Auge haben sollten. Aber von US-amerikanischen Zuständen sind wir dabei noch entfernt.
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... ist promovierter Neuropsychologe, Bestsellerautor und Redakteur bei MAITHINK X. Seine Leidenschaft gilt der Vermittlung von Wissenschaft durch Forschende. Zu diesem Zweck gründete er den beliebten Twitter-Account "Real Scientists DE" und gibt regelmäßig Seminare und Vorträge zum Thema.
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