Pflichtverteidigung: Vor dem Gesetz sind alle gleich - oder?

    Experten zur Pflichtverteidigung:Vor dem Gesetz sind alle gleich - oder?

    von Vanessa Meilin Rolke
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    Die EU stärkte 2019 die Rechte von Beschuldigten. Doch in der Realität stehen weiterhin viele Angeklagte ohne anwaltlichen Beistand vor Gericht - Experten fordern Abhilfe.

    Durchblick im Gesetzesdschungel: Vielfach ist vor Gericht eine Verteidigung vorgeschrieben - an der Stelle können Pflichtverteidiger ins Spiel kommen.
    Nicht jeder bekommt vor Gericht einen Verteidiger gestellt - obwohl es in vielen Fällen eine Pflicht dazu gibt.
    Quelle: dpa

    Um den Begriff Pflichtverteidiger tummeln sich viele Irrtümer. Einer davon: Jeder habe Anspruch auf einen anwaltlichen Beistand vor Gericht. Die Realität sieht anders aus, obwohl erst 2019 entsprechende Rechte durch die EU gestärkt wurden.
    In Deutschland fanden 2023 vor dem Amtsgericht in Strafsachen circa 140.000 Verhandlungen ganz ohne Verteidiger statt - mehr als jeder dritte Fall. Experten sehen darin einen Missstand.

    Wann bekommt man einen Pflichtverteidiger - und wann nicht?

    Ein Pflichtverteidiger ist ein vom Gericht bestellter Rechtsanwalt, der für den Verdächtigen tätig wird - unabhängig davon, wie vermögend der Verdächtige ist. Das Recht auf einen Pflichtverteidiger besteht dann, wenn zum Beispiel die Hauptverhandlung vor einem Landgericht stattfindet, oder wenn dem Verdächtigen eine schwerere Straftat vorgeworfen wird.
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    Verdächtigen steht außerdem ein Pflichtverteidiger zu, wenn der konkrete Fall zu kompliziert ist oder der Verdächtige sich nicht selbst verteidigen kann. Für Letzteres ist nach der aktuellen Rechtsprechung ein Sprachdefizit nicht ausreichend, da es das Recht auf einen Dolmetscher gibt.
    Beschuldigte haben seit der "EU-Legal-Aid-Richtlinie" bereits für die erste polizeiliche Vernehmung das Recht auf einen Pflichtverteidiger. Außerdem hat sich eine ungeschriebene Regel entwickelt: Wenn die Straferwartung weniger als ein Jahr Freiheitsstrafe beträgt, dann wird kein Pflichtverteidiger bestellt.
    Laut Deutschem Strafverteidiger Verband führt dies teils dazu, dass die Staatsanwaltschaft elf Monate Freiheitsstrafe beantragt, auch um unterhalb der Pflichtverteidiger-Grenze zu bleiben.

    ... liegt im Strafmaß: Für Vergehen sieht das Gesetz als Mindeststrafe eine Geldstrafe oder eine Freiheitsstrafe von weniger als einem Jahr vor. Verbrechen haben eine Straferwartung von mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe - jedes Verbrechen stellt eine sogenannte schwerere Straftat dar, für die ein Recht auf Pflichtverteidigung besteht.

    Wie läuft der Antrag auf einen Pflichtverteidiger ab?

    Mit der Umsetzung der Richtlinie hat der deutsche Gesetzgeber auch ein Antragserfordernis eingeführt. Danach muss der Verdächtige belehrt werden, dass er einen Pflichtverteidiger beantragen kann und den Antrag dann selbst stellen.
    Nicht nötig ist ein Antrag, wenn der Verdächtige in Haft genommen wird oder sich nicht selbst verteidigen kann. Problematisch dabei: Ein Verdächtiger wird auch darüber belehrt, dass er die Kosten des Pflichtverteidigers zahlen muss, wenn er verurteilt wird.

    ... werden zunächst aus der Staatskasse bezahlt. Der Staat stellt dem Verurteilten die Kosten nachträglich in Rechnung. Sofern ein Verurteilter wirtschaftlich in der Lage ist, muss er die Kosten bezahlen. Wer freigesprochen wird, muss keine Kosten übernehmen.

    Was kritisieren Rechtsexperten an der Gesetzeslage?

    Die Belehrung über die Kosten wirke abschreckend und könne die Verdächtigen davon abhalten, ihr Recht wahrzunehmen, erklärt Matthias Jahn. Er ist Strafrechtsprofessor an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der Thematik.

    Das Antragserfordernis wirkt wie ein angehängtes Preisschild. Auf den ersten Blick soll der Eindruck entstehen, dass unser Rechtsstaat gut funktioniert. Aber im selben Atemzug wird damit gedroht, seine Rechte bloß nicht wahrzunehmen.

    Matthias Jahn, Goethe-Universität Frankfurt am Main

    Jahn kritisiert, dass die Lobby für Betroffene praktisch nicht existent sei, obwohl die Rolle des Verteidigers für sie eine enorme Bedeutung hat.
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    Experten sind sich einig, dass das Gesetz an sich gut sei, aber teils zu streng angewendet werde. Ein weiterer Kritiker ist Jan-Robert Funck, Fachanwalt für Strafrecht. Er betreut nach eigenen Angaben circa 400 Fälle im Jahr, 300 davon sind Pflichtverteidigungen. Funck ist nicht nur der Meinung, dass ein Richter das Recht zur Pflichtverteidigung in besonderen, neuen Konstellationen kreativer anwenden sollten, um eine faire Lösung zu finden. Auch seine Anwaltskollegen sieht er in der Pflicht.

    Mir ist es unbegreiflich, wie wenig viele Kollegen aus der neuen Gesetzeslage machen. Sie könnten ihrem Mandanten schon viel eher zur Seite stehen und faire Lösungen bereitstellen, um eine Erhebung der Anklage abzuwenden.

    Jan-Robert Funck, Fachanwalt für Strafrecht

    Funck ist der Ansicht, dass Pflichtverteidiger mehr kämpfen müssten, und zwar schon im Vorfeld. Wenn ein Gericht ihre Bestellung ablehnt, sollen sie nicht einfach aufgeben, sondern sofort Beschwerde einreichen. Denn in der nächsten Instanz könne die Entscheidung des Gerichts positiv ausfallen - und oft sei dies auch der Fall.



    Welche anderen Regelungen zur Pflichtverteidigung sind möglich?

    Dass es auch anders geht, zeigt unser Nachbarland Niederlande. Dort wurde seit der Einführung der EU-Richtlinie ein sogenanntes Legal-Aid-Programm geschaffen, welches von einer staatlichen Behörde finanziert wird. Das Programm ermöglicht es jedem Beschuldigten, unabhängig von der Schwere der vorgeworfenen Straftat, bereits bei der ersten polizeilichen Vernehmung einen Pflichtverteidiger zu bestellen.
    Aus dem Bundesjustizministerium heißt es, man prüfe derzeit, wie man die Beschuldigtenrechte mit gesetzgeberischen Maßnahmen besser stärken könne. Matthias Jahn fände eine Änderung nach dem Vorbild der Niederlande wünschenswert:

    Jeder Mensch verdient eine faire Verteidigung, mit allen Mitteln, die der Rechtsstaat zur Verfügung stellt.

    Matthias Jahn, Goethe-Universität Frankfurt am Main

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