Terra X - die Wissens-Kolumne:Legasthenie: Faire Noten für Rechtschreibung
von Henning Lobin
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Das Bundesverfassungsgericht hat über Zeugnisvermerke wegen Legasthenie in Abiturzeugnissen entschieden - und dabei die Bedeutung der Rechtschreibung gestärkt.
Rechtschreibung lernen wir in der Schule. Beliebt ist das bei den meisten Schülerinnen und Schülern nicht, aber wichtig. Denn die Schreibung von Wörtern bildet nicht einfach nur ihre Lautfolge ab, sondern sie gibt uns beim Lesen Hinweise darauf, um was für Wörter es sich handelt.
Der Buchstabenfolge "fällt" sehen wir an, dass eine Form des Verbs "fallen" bezeichnet wird, und bei "Feld" erkennen wir sofort, dass es sich um ein Substantiv handelt, das im Genitiv "Feldes" lautet.
In der Terra-X-Kolumne auf ZDFheute beschäftigen sich ZDF-Wissenschaftsjournalistinnen und -journalisten wie Harald Lesch, Mirko Drotschmann und Jasmina Neudecker sowie Gastexpert*innen jeden Sonntag mit großen Fragen der Wissenschaft - und welche Antworten die Forschung auf die Herausforderungen unserer Zeit bietet.
Die Schriftsprache ist eine eigenständige Erscheinungsweise unserer Sprache. Wir folgen orthografischen Regeln, um anderen das Lesen zu erleichtern. Und weil die Rechtschreibung als ein wichtiger Gegenstand in der Schule verankert ist, wird ihre Beherrschung als ein Ausweis von Bildung verstanden.
Legasthenie heißt nicht, zu wenig geübt zu haben
Kinder mit einer Lese-Rechtschreib-Schwäche müssen zusätzlich üben, um diese zu überwinden. Wenn das rechtzeitig geschieht, ist die Aussicht sehr gut, eine solche Schwäche vollständig zu überwinden.
Es gibt aber auch Menschen, bei denen alles Üben nicht viel hilft. Es sind Menschen, die aufgrund einer anerkannten neurologischen Behinderung nur schwer in der Lage sind, Buchstaben zu erkennen, und sie nur mit Mühe zu Wörtern verbinden können.
Dies wird eine Lese-Rechtschreib-Störung genannt: Legasthenie. Legasthenie kann nicht durch Üben "geheilt" werden, die Betroffenen erwerben vor allem Techniken des Umgangs mit ihr und bekommen sie dadurch oftmals auch gut in den Griff. Wussten Sie das? Nein? Genau das ist das Problem.
Das Gendern erregt alle, auch in der Sprachwissenschaft ist man sich nicht einig. Aber "abschaffen" lassen sich Gendersternchen und Co nicht. Was in dem Streit helfen könnte.
von Henning Lobin
Kolumne
Rechtschreibprobleme sind nicht mit schlechter Bildung gleichzusetzen
Legasthenie wird heute oft noch als ein Stigma verstanden, wenn bekannt ist, dass jemand davon betroffen ist. Sie wird womöglich mit verminderter Intelligenz, geringerer Leistungsbereitschaft oder einer schlechten Schulausbildung in Verbindung gebracht.
Damit wegen Legasthenie in der Schule bei der Bewertung von Schreibleistungen kein Nachteil entsteht, wird in vielen Bundesländern ein sogenannter Notenschutz gewährt - die Rechtschreibleistungen werden nicht in die Bewertung eines Textes einbezogen. Im Abiturzeugnis wird dieses dann entsprechend vermerkt.
Stigmatisierung oder notwendige Transparenz?
Auftritt Bundesverfassungsgericht: Gegen die Praxis des Zeugnisvermerks wurde von drei Betroffenen 2015 eine Verfassungsbeschwerde erhoben. Sie argumentieren, dass es doch nicht sein kann, dass staatliche Stellen Behinderte mit einem Zeugnisvermerk stigmatisieren und ihnen die freie Berufswahl verbauen. Behinderte Menschen müssten doch vielmehr unterstützt und auch für Legastheniker Barrierefreiheit hergestellt werden.
Dem wurde vom Beschwerdegegner, einem Bundesland, entgegengehalten, dass der Notenschutz ja ausdrücklich eine Rücksichtnahme darstelle. Zukünftige Arbeitgeber müssten doch wissen, wie es um Lesefähigkeit und Rechtschreibung von Bewerberinnen und Bewerbern bestellt sei. Schließlich gebe es Berufe, in der die Kompetenz in diesen Bereichen eine unabdingbare Voraussetzung sei - und das Abiturzeugnis muss über diese Kompetenzen Auskunft geben.
In einer vorherigen mündlichen Verhandlung zu dieser Beschwerde am 28. Juni ging es unter anderem um die Frage, ob es auch andere Behinderungen gibt, die nicht als solche erkennbar sind und in der Schule zu Notenschutz führen - die aber nicht im Zeugnis vermerkt werden.
Laut Verfassungsgericht dürfen Vermerke über vereinfachte Prüfungsbedingungen in Zeugnissen stehen. Aber nur wenn alle Einschränkungen, nicht nur eine Legasthenie, Erwähnung finden.22.11.2023 | 1:31 min
Zeugnisvermerke verfassungskonform, wenn sie nicht diskriminieren
Letzten Mittwoch wurde das Urteil verkündet. Überraschung auf allen Seiten: Zeugnisvermerke zum Notenschutz wegen Legasthenie sind verfassungswidrig - aber nur dann, wenn es nicht auch Zeugnisvermerke aus anderen Gründen gibt. Ansonsten aber kann das Zeugnis derartige Vermerke enthalten, wegen der Gerechtigkeit gegenüber denjenigen, die diese Leistungen zu erbringen hatten, und aufgrund des öffentlichen Interesses nach Transparenz der Abi-Leistungen.
Das bedeutet, dass die Beherrschung der Rechtschreibung einen notwendigen Bestandteil der durch das Abitur dokumentierten Hochschulreife darstellt. Die Interessen der Legastheniker, ihre Behinderung nicht offenzulegen, treten dahinter zurück.
Ich halte dies für eine nicht ganz einfach zu akzeptierende, aber doch gelungene Entscheidung. Wie hätten Sie entschieden?
6,2 Millionen Menschen in Deutschland können nicht richtig lesen und schreiben. Bewegende Geschichten zeigen, wie Betroffene mit ihrer Leghastenie umgehen und ihe Ziele erreichen.05.09.2023 | 28:11 min
... ist Direktor des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim, Professor für Germanistische Linguistik an der dortigen Universität und Mitglied des Rats für deutsche Rechtschreibung. Über die Sprache kann er immer wieder staunen, aber auch darüber, wofür sie alles herhalten muss.
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