Klimawandel: Resilienz der Erde "scheint abzunehmen"
Interview
Klimaforscher zu 1,5-Grad-Marke:Resilienz der Erde "scheint abzunehmen"
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2024 wird voraussichtlich das wärmste Jahr seit Messbeginn und die 1,5-Grad-Marke reißen. Die Erderwärmung scheint sich zu beschleunigen, sagt Klimaforscher Nico Wunderling.
2024 wird wohl das heißeste Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen. Der EU-Klimadienst Copernicus erwartet eine Durchschnittstemperatur von 1,6 Grad über dem vorindustriellen Niveau.09.12.2024 | 0:22 min
ZDFheute: Der EU-Klimawandeldienst geht davon aus, dass die Erdtemperatur in diesem Jahr zum ersten Mal mehr als 1,5 Grad höher sein wird als im vorindustriellen Zeitalter. Haben Sie so bald damit gerechnet?
Nico Wunderling: Bei den 1,5 Grad müssen wir unterscheiden: Die Klimaforschung bezieht sich auf den 20-Jahres-Durchschnitt und geht davon aus, dass wir in diesem langjährigen Mittel um 2030 1,5 Grad Erwärmung erreichen werden. Die Prognose für dieses Jahr ist aber spannend, weil wir zum ersten Mal in einem Kalenderjahr - sehr wahrscheinlich - die 1,5 Grad überschreiten werden. Das ist tatsächlich früher, als ich vor einigen Jahren noch erwartet hätte.
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ZDFheute: Vor allem die erste Jahreshälfte war vom Wetterphänomen El Niño geprägt, das auch unabhängig vom Klimawandel zu höheren Temperaturen führen kann. Inwiefern hängt der Rekord damit zusammen?
Wunderling: Das hängt natürlich mit den El-Niño-Effekten zusammen, die es auch letztes Jahr schon gegeben hat. 16 der letzten 17 Monate lagen über 1,5 Grad. Auch 2023 kamen wir nach den Copernicus-Daten mit 1,48 Grad messerscharf daran. El Niño schwächt sich jetzt langsam ab. Ich vermute, dass wir nächstes Jahr wieder etwas darunter liegen werden.
Während des Wetter-Phänomens El Niño kommt es zu Wetterextremen im Pazifikraum. Das hat verheerende Folgen.31.05.2023 | 1:32 min
ZDFheute: Nach El Niño wird La Niña erwartet, entspannt sich die Situation 2025 wieder?
Wunderling: Selbst wenn es im kommenden Jahr etwas kühler wird, heißt das nicht, dass wir wieder auf das Niveau von vor fünf, sechs oder gar zehn Jahren zurückkommen. Sondern auch ohne El Niño landen wir voraussichtlich Ende dieses Jahrzehnts wieder bei 1,5 Grad im Durchschnitt.
El Niño ("der Junge" oder auch "das Christkind") bezeichnet ein Wetterphänomen im Südpazifik. Normalerweise wehen dort Passatwinde, die das Oberflächenwasser des Pazifiks von Osten nach Westen schieben. Das Wasser erwärmt sich durch die Sonne, bis es vor Australien, Indonesien und Südostasien ankommt. Das sorgt für das feuchtwarme Klima in diesen Regionen. Im östlichen Pazifik, vor Südamerika, strömt kaltes Wasser nach. Das Klima ist dort eher kühl und trocken.
Bei einem El-Niño-Ereignis, das alle drei bis sieben Jahre auftritt, schwächen sich die Passatwinde ab oder wechseln sogar die Richtung. Vor Südamerika ist der Pazifik deshalb wärmer als üblich. Es verdunstet mehr Wasser, was zu starken Niederschlägen, Überschwemmungen und Erdrutschen führen kann. In Südostasien bleibt der Pazifik kühler, die Niederschläge werden weniger oder bleiben aus. Die Folge sind Dürren, Waldbrände und Ernteausfälle.
Zwar ist El Niño keine Folge des Klimawandels, dieser scheint die Intensität des Wetterereignisses aber zu erhöhen.
Das Wetterphänomen La Niña ("das Mädchen") tritt alle drei bis fünf Jahre auf. Hierbei schieben die Passatwinde das Wasser im Pazifik zwar wie gewohnt von Ost nach West, allerdings sind die Winde deutlich stärker als normalerweise. Es fließt deshalb mehr warmes Wasser Richtung Westen, der Temperaturunterschied zwischen beiden Pazifikküsten wächst.
In Indonesien und Australien steigt die Wahrscheinlichkeit für Starkregen und Überschwemmungen, weil dort mehr warmes Wasser ankommt und verdunstet. Auch außerhalb des Pazifiks sind Auswirkungen von La Niña spürbar. Die Wahrscheinlichkeit von Hurrikanen etwa ist in den USA und der Karibik erhöht.
ZDFheute: Also hat sich die menschgemachte Erderwärmung zuletzt beschleunigt?
Wunderling: Neuere Daten zeigen: eher ja, weil sich die Emissionen immer noch auf einem sehr hohen Niveau befinden. Auch dieses Jahr sind sie laut dem Global Carbon Project um 0,8 Prozent gegenüber dem letzten Jahr gestiegen. Das heißt: 2024 wird wieder das Jahr mit den höchsten CO2- und Methan-Emissionen sein.
2023 gab es im Amazonas-Gebiet eine starke Dürre. Selbst zu Beginn der Regenzeit war es zu heiß und zu trocken. Die Folgen für das Ökosystem Regenwald sind fatal.
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Außerdem scheinen einige Kohlenstoffsenkenschwächer zu werden. Zum Beispiel der Regenwald im Amazonas, der inzwischen durch die Abholzung und menschengemachte Feuer zum Teil selbst zur CO2-Quelle geworden ist.
ZDFheute: Eine KI-gestützte Analyse hat ergeben, dass die Durchschnittstemperatur in Europa bis 2060 sogar schon um drei Grad steigen könnte - also noch stärker als in bisherigen Simulationen angenommen. Kann KI dabei helfen, in den Prognosen genauer zu werden?
Wunderling: In Europa könnten die Temperaturen in der Tat gegen Mitte des Jahrhunderts die Drei-Grad-Marke überschreiten, wie die Studie zeigt. Künstliche Intelligenz kann uns helfen, genauere Prognosen zu treffen, indem sie Beobachtungsdaten mit Projektionen aus Erdsystemmodellen kombininert. Daher sollte meiner Meinung nach die Entwicklung von Methoden mit und ohne KI vorangetrieben werden.
Quelle: Hoffotografen
... forscht am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung und dem Center for Critical Computational Studies der Goethe-Universität Frankfurt zu Kippelementen im Klimasystem.
ZDFheute: Warum ist entscheidend, ob wir bei 1,5 oder zwei Grad landen?
Wunderling: Mit zunehmender Durchschnittstemperatur steigt das Risiko - sowohl für Extremwetterereignisse wie dieses Jahr an der Oder und in Spanien als auch das Überschreiten von Kipppunkten. Ab der Grenze von 1,5 Grad könnten die Kipppunkte des grönländischen und westantarktischen Eisschilds in unmittelbarer Nähe liegen oder bereits überschritten sein, aber auch atlantische Ozeanzirkulationen wie der Golfstrom sind bei weiter ansteigender globaler Erwärmung in Gefahr, sich abzuschwächen oder im schlimmsten Fall zum Erliegen zu kommen.
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Das würde im Fall der Eisschilde zwar Jahrhunderte dauern. Aber die Eisschmelze würde sich dann verstetigen, ohne dass wir noch etwas dafür tun müssten.
ZDFheute: Wie lässt sich die Richtung noch umkehren?
Wunderling: Wir müssen möglichst schnell Emissionen runterfahren. Außerdem wird selbst in den optimistischeren Szenarien mit dem künstlichen Entfernen von CO2 aus der Atmosphäre gerechnet. Ab circa 2050, idealerweise davor, werden negative Nettoemissionen nötig sein, um das 1,5-Grad-Ziel Ende dieses Jahrhunderts noch zu erreichen. Das kann durch Aufforsten passieren, muss aber auch technologische Lösungen beinhalten.
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