Wie Kipppunkte das Klima retten könnten - Terra-X-Kolumne
Kolumne
Terra X - die Wissens-Kolumne:Wie Kipppunkte das Klima retten könnten
von Christian Scharun
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Kipppunkte haben einen zu schlechten Ruf. Denn sie haben das Potenzial für positive gesellschaftliche Veränderungen, die der Klimakrise entgegenwirken können.
Kipppunkte, wie der Zusammenbruch des Golfstroms oder das Schmelzen der Gletscher auf Grönland, sind nicht nur alarmierende Klima-Katastrophenszenarien, in ihnen verbirgt sich auch ein großes Potenzial für einen positiven Umschwung - inmitten unserer Gesellschaft.
Wann kippt der Golfstrom?
Als in dem Actionfilm "The Day After Tomorrow" der Golfstrom zusammenbricht, versinkt die Welt in einem Chaos aus Naturkatastrophen und Panik. Auch wenn Hollywood hier erwartungsgemäß dick aufträgt, zeigt es eines doch sehr deutlich: Der Golfstrom, welcher als Teil der atlantischen Umwälzzirkulation unser gemäßigtes Klima in Europa beeinflusst, stellt einen äußerst sensiblen Kipppunkt in unserem Erdsystem dar.
Aktuelle Studien zeigen sogar, dass dieser so wichtige Meeresstrom bereits stärker abgeschwächt ist und sich damit bereits näher an einem Kipppunkt befindet, als wir das bisher dachten - vielleicht schon in diesem Jahrhundert. Die Ursache dafür ist in erster Linie das Schmelzen des grönländischen Eisschildes. Schmelzwasser gelangt dadurch in den Atlantik, verändert dort die Dichte und Temperatur des salzhaltigen Meeres und bringt somit diese große Ozeanpumpe ins Stocken.
Das Golfstrom-System ist ein System aus Meeresströmungen im Atlantik, das Wärme von den Subtropen bis nach Europa transportiert und so bei uns für ein mildes Klima sorgt. 10.11.2021 | 7:28 min
Das Klima ist kein Spiel
Passiert das, sind die Auswirkungen fatal: Nicht nur eine Zunahme unvorhersehbarer Extremwetterereignisse und ein rasanter Temperaturabfall in Europa, auch der Kollaps wichtiger Ökosysteme im Atlantik und ein Meeresspiegelanstieg an der Ostküste Nordamerikas wären die Folge. Zudem könnten weitere Kipppunkte dadurch angestoßen und überschritten werden, wie beispielsweise der Verlust des Amazonas Regenwaldes.
Das ist vergleichbar mit einem beliebten Geschicklichkeitsspiel, bei dem man kleine Holzklötze aus einem Turm ziehen und sie vorsichtig wieder oben auflegen muss. Durch die Veränderungen in der Natur, die wir Menschen herbeigeführt haben, kommt das gesamte System aus dem Gleichgewicht. Brechen Teile oder das komplette Gebilde zusammen, so ist das zwar im Spiel einfach wieder rückgängig zu machen, nicht jedoch in der Realität.
In der Terra-X-Kolumne auf ZDFheute beschäftigen sich ZDF-Wissenschaftsjournalistinnen und -journalisten wie Harald Lesch, Mirko Drotschmann und Jasmina Neudecker sowie Gastexpert*innen jeden Sonntag mit großen Fragen der Wissenschaft - und welche Antworten die Forschung auf die Herausforderungen unserer Zeit bietet.
Kipppunkte können Gutes bewirken
Doch nicht nur das Erdklima kann kippen. Auch bei sozialen oder technischen Veränderungen spricht man von Kippelementen. Experten zufolge gibt es Anzeichen dafür, dass die Elektromobilität in wichtigen Märkten wie China und Europa sich einem solchen Kipppunkt annähert oder ihn bereits überschritten hat. Werden E-Autos zur dominierenden Verkehrsform, sinken die Kosten der Batterietechnologie. Gleichzeitig steigt der Bedarf für mehr Speicherkapazitäten und löst einen positiven Kipppunkt aus, der zum großflächigen Ausbau und damit noch günstigerer Erneuerbarer Energie führen kann.
Das kann auch Auswirkungen auf unser Verhalten haben. Installieren Nachbarn oder Freunde eine Photovoltaik-Anlage oder nutzen ein E-Auto, entsteht ein kompetitiver Prozess, der die Entscheidung anderer Menschen für eine Anschaffung beeinflussen kann. Forschende sprechen auch von einer sozialen Ansteckung, durch die sich unsere Gesellschaft unumkehrbar auch zum Positiven verändern kann, wenn der Nachhaltigkeitsgedanke zu einer tief verwurzelten sozialen Norm wird.
Alternative Energien: die Hoffnung in der Klimakrise. Doch Sonne und Wind sind nicht immer und überall verfügbar. Was können Energiespeicher leisten und wo steht die Forschung?04.05.2021 | 28:22 min
Kipppunkte: Große Unsicherheit, aber klare Botschaft
Ende 2023 sorgte der "Global Tipping Points Report" für große Aufmerksamkeit in den Medien. Als erste große Studie fasste der Report das gesamte Fachwissen über Kipppunkte zusammen und ordnete es ein. Zur Wahrheit gehört dabei, dass alles, was wir über die Kipppunkte im Klimasystem wissen, von relativ großen Unsicherheiten geprägt ist.
Vergleichbar mit einem Auto, das beim Crashtest gegen eine Wand fährt: Die Frage, wohin die linke vordere Radkappe bei dem Unfall nun genau fliegen wird, lässt sich nur mit großer Unsicherheit voraussagen. Das brauchen wir aber auch nicht, um beurteilen zu können, dass der Schaden am Auto mit höherer Geschwindigkeit tendenziell immer größer wird und wir deshalb besser versuchen, so gut es geht vor dem Aufprall abzubremsen.
Fast alles, was man über Kipppunkte hört, ist verkürzt, missverständlich oder schlicht falsch. Dabei können sie sogar den Weg in eine bessere Zukunft zeigen.03.03.2024 | 27:45 min
Allein die Tatsache, dass es also überhaupt eine Wahrscheinlichkeit für die Kipppunkte im Klimasystem gibt, sollte uns aufhorchen lassen. Auch ohne sie wissen wir genug darüber, wie uns das Erdklima mit steigendem Meeresspiegel und extremen Wetterereignissen im wörtlichen Sinne um die Ohren fliegen wird, sollten wir nicht endlich entschlossen genug auf die Bremse steigen. Und im besten Falle können positive Kipppunkte uns vor dem Schlimmsten bewahren. Wir haben es selbst in der Hand.
... ist wissenschaftlicher Autor in der Redaktion von MAITHINK X. Wissenschaftliche Inhalte kommuniziert er auf unterhaltsame Art und Weise auch bei Science Slams sowie auf YouTube und anderen sozialen Netzwerken. 2022 konnte er mit "FameLab Germany" einen der größten Wettbewerbe für Wissenschaftskommunikation gewinnen. Neben seiner Passion für die Wissenschaft selbst war Christian Scharun als Klimaforscher aktiv. Dabei beschäftigte er sich mit den Emissionen von Treibhausgasen und simulierte mit Klimamodellen ihren Beitrag zur globalen Erwärmung.
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