Demokratie darf nicht nur Floskel sein | Terra-X-Kolumne

    Kolumne

    Terra X - die Wissens-Kolumne:Demokratie darf nicht nur Floskel sein

    von Daniel Mullis
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    Die Proteste seit Januar 2024 zeigen: Rechtsextreme kommen in Deutschland nicht ungehindert an die Macht. Um langfristig wirksam zu sein, muss Demokratie mit Inhalten gefüllt sein.

    Terra X - Die Wissens-Kolumne: Daniel Mullis
    Quelle: ZDF

    Montagabend Ende Januar 2024 in einer Kleinstadt in Sachsen-Anhalt. Wieder einmal ist eine Kundgebung der AfD angemeldet. Normalerweise kommen fünfzehn Personen zum Gegenprotest. Man sei in der Defensive, heißt es und dass jeder jeden kenne, mache es nicht leichter, gegen die Stimmung vor Ort anzukämpfen. Schließlich müsse man sich im Alltag arrangieren. Manche haben Angst und schweigen deshalb. Doch an diesem Abend ist alles anders. Zum ersten Mal nach Jahren von Pegida und Corona-Spaziergängen erleben die Menschen in der Stadt, dass sie als Demokraten in der Mehrheit sind.

    ... ist promovierter Humangeograph am Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung. Er forscht zu rechtsextremen Tendenzen in der Mitte der Gesellschaft. Dabei beschäftigt er sich mit Neoliberalisierungsprozessen und der Krise der Demokratie. Im März ist sein Buch "Der Aufstieg der Rechten in Krisenzeiten" erschienen. Ihn motiviert es, einen Beitrag für den sozialen Zusammenhalt und eine demokratische Gesellschaft zu leisten.

    Überall in Deutschland, in Ost und West, in Nord und Süd, in Stadt und Land, gingen im Januar und Februar Hunderttausende gegen Rechtsextremismus und für Demokratie auf die Straße. Es war ein spontanes Aufbegehren, das von unten kam.
    Auslöser waren die Correctiv-Recherchen, wonach Mitglieder der AfD an einem Treffen mit anderen Rechtsextremen und zwei Mitgliedern der Union teilgenommen hatten, um über einen "Masterplan Remigration" zu sprechen. Bis dahin hatten die Umfragewerte der AfD seit Mitte 2023 praktisch nur nach oben gezeigt. Zum Jahresbeginn lagen sie bei 22 Prozent. Mittlerweile sind die Proteste nicht mehr so groß, aber sie halten an und so haben bis heute rund fünf Millionen Menschen ein deutliches Zeichen gesetzt, dass die extrem Rechte in Deutschland nicht einfach durchmarschieren wird.
    Proteste gegen AFD
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    Europawahl und nun?

    Die Euphorie war groß. Viele, die demonstrierten hofften, der AfD schnell Einhalt zu gebieten. Man sei schließlich in der Mehrheit und die Rechten in der Minderheit. Das Ergebnis der Europawahl brachte die ernüchternde Gewissheit. Sicher, die Umfragewerte waren einmal deutlich höher als die Stimmen, die die Partei nun erhalten hat und dies ist auch ein Ergebnis der Proteste. Dennoch sind es knapp 16 Prozent.
    Trotz der Proteste, nach innerparteilichen Skandalen, nach der juristischen Niederlage in Münster, wo die AfD als rechtsextremer Verdachtsfall bestätigt wurde. Es ist und bleibt auch das beste Ergebnis, das die Partei je bei einer bundesweiten Wahl erzielen konnte, und gerade in Ostdeutschland wurde sie flächendeckend mit jeweils rund 30 Prozent stärkste Kraft. In drei von ihnen, Brandenburg, Sachsen und Thüringen, wird im Herbst gewählt.

    In der Terra-X-Kolumne auf ZDFheute beschäftigen sich ZDF-Wissenschaftsjournalistinnen und -journalisten wie Harald Lesch, Mirko Drotschmann und Jasmina Neudecker sowie Gastexpert*innen jeden Sonntag mit großen Fragen der Wissenschaft - und welche Antworten die Forschung auf die Herausforderungen unserer Zeit bietet.

    Langer Kampf gegen Rechten Extremismus

    Umfragen zeigen es: Die AfD wird aus Überzeugung gewählt. Vielerorts, vor allem in Ostdeutschland, aber längst nicht nur dort, haben sich Milieus etabliert, in denen die Wahl der Rechtsextremen als normal gilt. Dass die Partei "in Teilen als rechtsextrem gilt", nehmen ihre Wählerinnen und Wähler wissend in Kauf.
    Es wird also entgegen der Euphorie einen langen Atem brauchen, um den erstarkenden Rechtsextremismus zurückzudrängen. Einfache Lösungen gibt es nicht. Vor allem, weil die Krisen-Dynamiken, die dem Erstarken zugrunde liegen, eher zu- als abnehmen. Dazu gehören Zukunftssorgen, Konflikte im Zuge der ökologischen Transformation, Abstiegsängste, die bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein wirksam sind und das Gefühl, in der Demokratie keinen Einfluss zu haben.
    Florence Gaub bei Richard David Precht (nicht im Bild)
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    Eine gemeinsame Brandmauer stärken

    Die Proteste haben dennoch gewirkt. Vielerorts wird berichtet, dass sich mehr Menschen im Alltag gegen die extreme Rechte engagieren. Gerade in Ostdeutschland wünschen sich die Menschen immer wieder "mehr zu sein" und Engagement ist nicht einfach, aber die Protestwelle hat auch hier Mut gemacht.
    Jetzt kommt es darauf an, dass die demokratischen Parteien die ausgestreckte Hand der Zivilgesellschaft annehmen und die Proteste nicht nur dankbar als Zustimmung zur republikanischen Ordnung werten. Projekte brauchen konkrete finanzielle Unterstützung und manchmal auch Schutz.
    Gert Scobel
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    Demokratie muss mit Inhalten gefüllt werden

    Um die Demokratie zu stärken, muss sie mit Inhalten gefüllt werden. Demokratie muss ein gesellschaftliches und politisches Angebot sein, das Teilhabe ermöglicht, soziale Sicherheit beinhaltet und Menschenrechte schützt. Denn Demokratie nur als Floskel zu beschwören, reicht als gemeinsamer Nenner gegen Rechtsextremismus auf Dauer nicht aus.
    Das zeigt die aktuelle Situation in Frankreich, wo das von den Konservativen fast 20 Jahre lang praktizierte Modell, Demokratie als Worthülse gegen den Rassemblement National ins Feld zu führen, gescheitert ist. Das zeigt aber auch die Entwicklung in Deutschland, wo die Brandmauer längst spürbar bröckelt. Damit die Proteste langfristig wirksam werden können, bedarf es also nicht nur des Engagements der Zivilgesellschaft, sondern auch des Willens der demokratischen Politik. Und gerade bei Letzterem ist eindeutig noch Luft nach oben.
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