Berührung als Medizin: Touch me, please | Terra-X-Kolumne
Kolumne
Terra X - die Wissens-Kolumne:Touch me, please - Berührung als Medizin
von Jasmina Neudecker und Daria Eva Stanco
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Berührung ist heilsam. Dass Streicheln Stress abbaut und Schmerz lindert, ist inzwischen erforscht. Wie gerade bei Depressionen auch der Einsatz sanfter Massage helfen kann.
2021 ging der Medizin-Nobelpreis an David Julius und Ardem Patapoutian für wichtige Erkenntnisse zur Funktionsweise unseres Berührungs- und Temperatursinns. Ein war ein weiterer Durchbruch in einem jahrzehntelangen Prozess.
In der Terra-X-Kolumne auf ZDFheute beschäftigen sich ZDF-Wissenschaftsjournalistinnen und -journalisten wie Harald Lesch, Mirko Drotschmann und Jasmina Neudecker sowie Gastexpert*innen jeden Sonntag mit großen Fragen der Wissenschaft - und welche Antworten die Forschung auf die Herausforderungen unserer Zeit bietet.
Medizin nahm Wichtigkeit der Psyche erst spät wahr
Die moderne Medizin hatte sich seit Jahrzehnten auf den sicht- und sezierbaren Körper spezialisiert. Dass zur Biologie des Körpers auch die "unsichtbare" Psyche zählt - also Botenstoffe, neuronale Verbindungen, das Hormonsystem - wurde lange vernachlässigt. Erst mit der oft zitierten Berührungsdeprivation bei Säuglingen in Waisenheimen in der Mitte das 20. Jahrhunderts - mit höherer Sterberate und Entwicklungsstörungen - begann ein Umdenken.
Doch abgesehen von der Körperpsychotherapie kommt Berührung in der Medizin auch heute noch kaum vor. Dabei ist das Bedürfnis nach den positiven Effekten von Berührung groß. So gibt es immer mehr Angebote für Menschen, die Berührung in ihrem Alltag vermissen, wie zum Beispiel Kuschelpartys.
Jasmina Neudecker erlebt auf einer Kuschelparty in der Terra Xplore-Folge „Unterkuschelt? Wie viel Berührung brauchen wir?“ was absichtslose Berührung mit ihr macht.01.07.2024 | 27:00 min
Streicheln als Stresspuffer: Wie Berührung Stress reduziert
Von all unseren Sinnen entwickelt sich der Tastsinn als erstes. Er ist wichtig für unsere Körperwahrnehmung - mit speziellen Nervenzellen unter anderem für Temperatur und Druck. Die sogenannten C-taktilen Nervenzellen sprechen auf die sanfte Berührung des Streichelns an: Wenn sie aktiviert werden, dann lösen sie bei uns ein Wohlgefühl aus, indem sie Reize ins Belohnungszentrum unseres Gehirns senden. Es kommt zur Ausschüttung von Botenstoffen wie Oxytocin und Endorphin, auch bekannt als Kuschel- und Glückshormon.
Diese Botenstoffe wirken den negativen Folgen von dauerhaftem Stress entgegen. Man könnte also sagen: Berührung puffert Stress ab. Und das ist deshalb so wichtig, weil ein chronisch erhöhtes Stresslevel, ausgelöst zum Beispiel durch Einsamkeit, unsere Lebenserwartung herabsetzt und unserer Gesundheit schadet. Berührung dagegen fördert unsere Gesundheit und kann sogar unser Leben verlängern.
Berührung kann uns auf mehreren Ebenen gut tun – vorausgesetzt sie erfolgt achtsam und in beiderseitigem Einverständnis: Jasmina wagt den Balanceakt zwischen Nähe und Distanz.01.07.2024 | 27:00 min
Berührungsmedizin: Depressionen durch Berührung lindern
Die Deutsche Gesellschaft für Berührungsmedizin, die sich 2022 gegründet hat, fordert, diese positiven Effekte der Berührung auch therapeutisch einzusetzen. Denn der Nutzen professioneller Berührungstechniken zur Prävention und Therapie verschiedener Erkrankungen ist inzwischen klar belegt, besonders bei Depressionen.
Laut einer Umfrage der Stiftung Deutsche Depressionshilfe sind 45 Prozent der Bundesbürger von Depression betroffen - als Erkrankter oder Angehöriger. Tatsächlich lässt die hohe Zahl depressiver Patientinnen und Patienten Stimmen laut werden, die bekannten Therapien - Medikamente und Psychotherapie - seien unzureichend.
Suizid ist allgegenwärtig und dennoch tabuisiert. Was Alarmzeichen für einen Suizid sind und wie jeder helfen kann, weiß Ute Lewitzka, Professorin für Suizidprävention.
Interview
Zugleich belegen kontrollierte Studien, dass spezielle Massagetechniken bei Depressionen antidepressiv, angstlösend und schmerzstillend wirken. Hinzu kommt: Bis heute ist unklar, in welcher Weise Antidepressiva ein primäres Symptom der Depression überhaupt positiv beeinflussen, nämlich die "Anhedonie" - am besten umschrieben als das Nicht-mehr-spüren-Können.
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Vom Kopf ins Körperbewusstsein
Berührung könnte hier einen direkten körperlichen Zugang zu Depressiven bieten, indem sie die Betroffenen über das interozeptive System beeinflusst - sie also vom Kopf wieder mehr ins Körperbewusstsein lenkt.
Erste Ergebnisse zeigen, dass sanfte Berührungen die Fähigkeit verbessern können, zum Beispiel den eigenen Herzschlag wahrzunehmen. Betroffene berichten zudem, dass mit Hilfe einer Massage ihre quälenden Gedankenspiralen zum Stillstand kommen. Somit könnte achtsame Berührung gerade bei Depression, die mit Einsamkeit zusammenhängt, ein wichtiger Baustein in der Therapie sein.
Achtsame Berührung im Alltag ist also weit wichtiger als oft angenommen. Eine einfache Umarmung kann zu Wohlbefinden, Gesundheit und zwischenmenschlicher Verbindung beitragen.
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... ist Biologin und Wissenschaftsjournalistin und geht für Terra Xplore den kleinen und großen Fragen des Lebens auf den Grund. Wichtig ist ihr dabei, ihre Begeisterung für Wissenschaft zu vermitteln, denn die ist es, die Orientierung gibt in unserer komplexen Welt.
Besonders interessiert ist sie neben Natur und Umwelt vor allem an all dem, was uns zu dem macht, was wir sind. Evolution, DNA, Psychologie und gesellschaftliche Prägung - die Vielschichtigkeit unseres Seins. Als absoluter Star-Trek-Nerd fühlt sie sich auch an der Seite von Harald Lesch sehr wohl - allein schon, weil er Astrophysiker ist.
… ist Beziehungscoach, Buch-Autorin und seit 2015 Wissenschaftsjournalistin beim ZDF. Als Redakteurin bei Terra Xplore sind menschliche Gefühlswelten und die Wissenschaft dahinter ihre Spezialität. Daria Eva Stanco studierte deutsche und englische Literatur, Psychologie und kulturelle Beziehungen in Heidelberg und London.
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