Boeing: Absturz eines Giganten?

    Whistleblower unter Beschuss:Boeing: Absturz eines Giganten?

    von Sebastian Wirth und Jan Schneider
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    346 Tote bei Abstürzen in Äthiopien und Indonesien, eine herausgefallene Flugzeugtür und tote Whistleblower. Was ist los beim Luftfahrtkonzern Boeing? Ein Background-Check.

    BOEING 737 MAX: Der Desaster-Flieger?
    346 Menschen haben bei Abstürzen mit Flugzeugen vom Typ Boeing 737 MAX ihr Leben verloren. Hätten die Abstürze verhindert werden können? Ein ZDFheute-Backgroundcheck.26.08.2024 | 19:01 min
    Es ist eine erschreckende Bilanz für den amerikanischen Flugzeugbauer Boeing: Der Konzern ist in den letzten Jahren nicht nur durch fatale Flugzeugabstürze, sondern auch durch Skandale um Sicherheitsmängel und unterdrückte Whistleblower in die Schlagzeilen geraten. Mitarbeiter und Experten erheben schwere Vorwürfe gegen das Unternehmen.
    In unserem ZDFheute-Backgroundcheck blicken wir auf die Vorgänge im Konzern und was zur aktuellen Krise geführt hat. Alle Hintergründe sehen Sie im Video oben im Artikel, hier lesen Sie eine Zusammenfassung der Recherche:

    Was ist los beim US-Flugzeugbauer?

    Bereits seit Jahren warnen Boeing-Mitarbeiter vor Sicherheitsmängeln in den Flugzeugen des Unternehmens. Einige weigerten sich sogar, in ihre eigenen Maschinen zu steigen. Der ehemalige Boeing-Ingenieur Ed Pierson erzählte, er habe sich geweigert, mit der neuen 737 Max zu fliegen, da er von potenziellen Sicherheitsproblemen wusste.

    Ich war der Letzte, der ins Flugzeug stieg und merkte, dass es eine Max war, und ich musste wieder aussteigen.

    Ed Pierson, ehemaliger leitender Manager in Boeings 737-Fabrik in Renton

    Pierson war nicht der einzige, der auf die Probleme des Konzerns hinweist. Allein dieses Jahr sind 126 Berichte von Whistleblowern bei der US-Bundesluftfahrtbehörde FAA eingegangen. Viele sollen sich auch vorher innerhalb des Konzerns mit ihren Bedenken gemeldet haben. Doch die Whistleblower, die Missstände ansprachen, wurden oft nicht ernst genommen oder sogar schikaniert.
    Elmar Giemulla, Luftfahrtexperte an der TU Berlin, beschreibt die Situation eines Whistleblowers: "Er wurde tatsächlich in der Firma Schritt für Schritt kaltgestellt."

    Whistleblower: "Ich hoffe, dass Boeing zahlt"

    Wie dramatisch diese Firmenkultur sein kann, zeigt der Fall des früheren Qualitätsbeauftragten bei Boeing, John Barnett. 30 Jahre lang hat Barnett bei Boeing gearbeitet und war unter anderem am Bau des Langstreckenflugzeugs Boeing 787 Dreamliner beteiligt. Im März wurde Barnett tot auf dem Parkplatz eines Hotels in Charleston in den USA aufgefunden. Er war dort, um bei einer Anhörung vor Gericht gegen Boing auszusagen.
    In einer Abschiedsnotiz soll er geschrieben haben: "Ich kann das nicht länger tun" und "Ich bete, dass Boeing zahlt".
    Barnetts Bruder gab damals an, er habe aufgrund des "feindseligen Arbeitsumfelds bei Boeing" unter einer posttraumatischen Belastungsstörung und Angstzuständen gelitten.
    Christian Sievers im Schaltgespräch mit Laura Frommberg, Chefredakteurin des Luftfahrtmagazins Aero Telegraph.
    Bei dem pannengeplagten Flugzeugbauer gebe es "einiges an Verbesserungsbedarf" bei Aufsicht, Qualitätssicherung und Produktionsbedingungen, sagt Luftfahrtjournalistin Frommberg.17.05.2024 | 4:04 min

    Von Ingenieuren zu Profiteuren?

    Auch Heinrich Grossbongardt, ehemaliger Pressesprecher von Boeing, berichtet von einer "Herabwürdigung der Mitarbeiter" und einer Verschiebung der Firmenkultur hin zu einem rein auf Profit getrimmten Unternehmen. Boeing, einst ein Unternehmen von Ingenieuren, wo Innovation und interne Diskussionen geschätzt wurden, hat sich über die Jahre stark gewandelt.
    Heinrich Grossbongardt beschreibt die alte Boeing-Kultur als ein Unternehmen, "auf das alle stolz waren und das auch intern sehr gut funktionierte". Doch nach der Übernahme von McDonnell Douglas, einem der größten Hersteller ziviler und militärischer Flugzeuge, im Jahr 1997 und unter der Führung von Harry Stonecipher und James McNerney verschob sich der Fokus des Unternehmens auf Kostensenkung und Gewinnmaximierung.
    Anwalt Marc Moller, der weltweit Hinterbliebene von Flugzeugabstürzen vertritt, kritisiert Boeings Vorgehensweise:

    Die ganze Situation bei Boeing, die zu den Max-Katastrophen führte, war der Versuch, Geld zu sparen und nicht ein ganzes Flugzeug neu zu entwerfen.

    Marc Moller, Rechtsanwalt

    Die 737 Max, Boeings Antwort auf den Wettbewerb mit Airbus, war eine Modifikation der bestehenden 737 und enthielt ein neues System, das sogenannte "Maneuvering Characteristics Augmentation System" (MCAS), welches jedoch nie richtig getestet oder den Piloten vollständig erklärt wurde.

    Fatale Entscheidungen und fehlende Transparenz

    Die Einführung des MCAS-Systems sollte das Flugzeug effizienter machen, führte jedoch zu den tödlichen Abstürzen in Äthiopien und Indonesien. Marc Moller beschreibt:

    Das MCAS-System klang nach einer fantastischen Sache. Wenn man überhaupt den Namen verstehen würde. Das Problem, das damit gelöst werden sollte, wird völlig verschleiert.

    Marc Moller, Rechtsanwalt

    Boeing hatte die FAA über das System informiert, aber nicht über spätere Änderungen und die damit verbundenen Risiken.
    Im Rückblick wird deutlich, dass diese Mängel und die daraus resultierenden Abstürze vermeidbar gewesen wären. "Das hätte nie und nimmer passieren dürfen", sagt Marc Moller und verweist auf die Unterdrückung kritischer Stimmen innerhalb des Unternehmens. Tatsächlich konnten die Piloten der verunglückten Flüge nicht wissen, dass das MCAS-System ohne ihr Wissen in ihre Flugmanöver eingreifen würde.
    17.05.2024, Renton, USA: Ein Arbeiter geht an einem Flugzeug vom Typ 737 MAX-9 vorbei.
    Panne folgt auf Panne: Der amerikanische Flugzeugbauer kämpft seit Jahren mit Qualitätsproblemen und Fertigungsfehlern. Die USA erwägen nun ein Strafverfahren gegen Boeing.17.05.2024 | 2:34 min

    Eine Kultur der Angst und des Schweigens

    In einem Umfeld, in dem der wirtschaftliche Druck dominiert, blieben technische Expertise und Sicherheitsbedenken offenbar auf der Strecke. Laut Heinrich Grossbongardt hat die Dominanz der Finanzabteilung dazu geführt, dass "technische Probleme nicht eskaliert werden können". Marc Moller ergänzt:

    Das Profitstreben schafft eine Dringlichkeit, die die Menschen innerhalb der Organisation glauben lässt, dass es keine Probleme geben wird, obwohl sie wissen sollten, dass es sehr wohl Probleme gibt.

    Marc Moller, Rechtsanwalt

    Die FAA wiederum, einst ein angesehener Regulator, scheint den Überblick verloren zu haben. Die Schwächung der Behörde durch die Politik hat dazu geführt, dass Boeing bei der Überprüfung seiner eigenen Flugzeuge zunehmend selbstständig agieren kann. "Die Zahl der qualifizierten Mitarbeiter, die wirklich auf Augenhöhe mit den Herstellern diskutieren können, ist geringer geworden", sagt Grossbongardt.

    Die Zukunft des Konzerns ist ungewiss

    Boeing befindet sich in einer Krise, die nicht nur technische Mängel offenbart, sondern auch eine grundlegende Krise der Unternehmenskultur. Während der Konzern weiterhin behauptet, dass "Sicherheit der Kern von allem ist, was wir bei Boeing tun", sprechen die Ereignisse der letzten Jahre eine andere Sprache.
    Die Zukunft des Unternehmens und das Vertrauen der Öffentlichkeit hängen nun davon ab, ob Boeing bereit ist, aus diesen Fehlern zu lernen und seine Kultur und Arbeitsweise grundlegend zu überdenken.

    Eine Person hält ein Smartphone in der Hand. Darauf ist der WhatsApp-Channel der ZDFheute zu sehen.
    Quelle: ZDF

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