Experte: Warum sich viele beim eigenen Einkommen verschätzen
Interview
Reiche unterschätzen Reichtum:Experte: Wahrnehmung von Einkommen "verzerrt"
|
Gehören Sie zur Mittelschicht? Viele Deutsche beantworten das mit "Ja" - sogar mehr, als tatsächlich dazugehören. Politologe Busemeyer erklärt Gründe und Folgen der "Verzerrung".
"Menschen schätzen die Verteilung von Einkommen falsch ein", sagt Marius Busemeyer. Das habe auch Auswirkungen auf Politik und Wahlen.
Quelle: dpa
Viele Menschen denken, sie seien Teil der Mittelschicht, obwohl sie da eigentlich nicht hingehören. Das zeigt eine Studie über Ungleichheit und soziale Mobilität der Universität Konstanz. Marius Busemeyer, Professor für Politikwissenschaft, erklärt die überraschenden Erkenntnisse.
ZDFheute: In ihrer Studie fragen Sie Menschen, wie diese ihre wirtschaftliche Situation einschätzen. Was war Ihnen daran wichtig?
Marius Busemeyer: Bei der Frage nach der Einkommens- beziehungsweise Vermögensungleichheit wurde bislang vor allem die objektive Ungleichheit durch Ökonomen gemessen. Besonders an unserer Studie war es, die subjektive Meinung abzufragen. Denn letztendlich beeinflusst die subjektive Wahrnehmung die Politik und entscheidet Wahlen.
... ist Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Vergleichende Politische Ökonomie am Fachbereich Politik- und Verwaltungswissenschaften der Universität Konstanz und Sprecher des Exzellenzclusters "The Politics of Inequality".
ZDFheute: Sie haben dabei herausgefunden, dass sich mehr Menschen der Mittelschicht zuordnen, obwohl sie objektiv dort nicht hingehören. Wie können Sie sich das erklären?
Busemeyer: Es ist tatsächlich überraschend, dass sowohl Reiche als auch Menschen mit wenig Einkommen diese verzerrte Wahrnehmung haben. Das hängt oftmals damit zusammen, dass sich Menschen nur in ihrer eigenen sozialen Gruppe betrachten.
Eines meiner liebsten Beispiele ist Friedrich Merz, der sich, obwohl er ein Privatflugzeug hat, zur oberen Mittelschicht zählt.
In Deutschland gibt es dafür keine festgelegten Einkommensgrenzen und keine einheitliche Definition. Laut OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) gehört zur Mittelschicht, wer zwischen 75 und 200 Prozent des mittleren Einkommens verdient. Die Bertelsmann-Stiftung definierte die Mittelschicht 2018 bei einer Spanne des monatlichen Nettoeinkommens von etwa 1.500 bis 4.000 Euro bei einer alleinstehenden Person, 3.000 bis 8.000 Euro bei einem Paar mit zwei Kindern.
Deutschland belegt Platz 3 auf der Rangliste der Länder mit den meisten Millionär*innen und jedes Jahr werden es mehr. Warum werden die Reichen in diesem Land immer reicher?30.05.2023 | 10:52 min
ZDFheute: Was ist denn die Konsequenz dieser verzerrten Wahrnehmung?
Busemeyer: Es handelt sich bei dieser Wahrnehmung um eine Fehleinschätzung der eigenen Position. Menschen schätzen die Verteilung von Einkommen falsch ein.
Auch haben zwei Parteien in der jetzigen Regierung von einer Einführung von Vermögenssteuern in ihrem Wahlprogramm gesprochen. Ich finde, das ist interessant, dass darüber jetzt aber gar nicht mehr gesprochen wird.
Armut ist in Deutschland längst nicht mehr nur ein Problem von Arbeitslosen und älteren Menschen mit kleiner Rente. Immer mehr Geringverdiener kommen trotz Vollzeitjob nicht über die Runden.08.12.2022 | 29:58 min
ZDFheute: In Ihrer Studie stellen Sie einerseits fest, dass das Ausmaß von Ungleichheit unterschätzt wird, andererseits sind Befragte aber sehr pessimistisch, was die Zukunft von Einkommensverteilung betrifft. Das hört sich nach einem Widerspruch an. Wie passt das zusammen?
Busemeyer: Das klingt erst mal nach einem Widerspruch. Allerdings unterscheiden Befragte hier nach eigener Position und gesamtdeutscher Lage. Für sich persönlich unterschätzen sie die Ungleichheit, aber insgesamt glauben sie, die Lage wird ungerechter. Spannend ist, dass sich dabei Wähler verschiedener Parteien unterscheiden. AfD-Wähler blicken beispielsweise besonders pessimistisch in die Zukunft.
ZDFheute: Ist da etwas dran? Wie sieht die Situation aus?
Busemeyer: Die Befragten überschätzen, wie sehr sich die gesamtdeutsche Lage verschlechtert.
Auf der anderen Seite schätzen die Befragten die Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen sehr ähnlich ein, obwohl die Schere bei Vermögensungleichheit sehr viel weiter auseinandergeht. Daraus folgt, dass weniger Menschen eine Vermögenssteuer oder Erbschaftsteuer für notwendig halten.
ZDFheute: Kann man diese verzerrten Vorstellungen gerade rücken? Was kann man dagegen machen?
Busemeyer: Es ist die Aufgabe der Wissenschaft, der Gesellschaft dieses Wissen an die Hand zu geben. Um dieser Verzerrung entgegenzuwirken, muss in Schulen und der Politik mehr über die reale Ungleichheit aufgeklärt werden. Es müssen vor allem mehr öffentliche Debatten zur Verteilung von Einkommen und Vermögen stattfinden.
Die soziale Marktwirtschaft wird 75. Kanzler Ludwig Erhard versprach den Deutschen einst "Wohlstand für alle" - Wirtschaftsexperten erklären, was daraus geworden ist.