Rollstuhlbasketball: Vom Sportmuffel zu den Paralympics 2024
Rollstuhlbasketballer Lammering:Vom Sportmuffel zum Spitzensportler
von Susanne Rohlfing
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Julian Lammering kam mit einer genetisch bedingten Bewegungsstörung zur Welt. Lange dachte er, Sport sei nichts für ihn. Doch nun will der 20-Jährige zu den Paralympics in Paris.
Er gehört schon zu den besten Rollstuhlbasketballern Deutschlands: Julian Lammering. Jetzt möchte er zu den Paralympics.
Quelle: Imago
Der Bundestrainer sagt über den Jüngsten in seinem Team. Er sei "eines der vielversprechendsten Talente im deutschen Rollstuhlbasketball". Das ist erstaunlich. Denn Julian Lammering dachte lange, Spitzensport sei nur etwas für andere. Für die, deren Beine besser funktionierten als seine.
Einst übergewichtig, heute muskelbepackt
Er probierte Bogenschießen und Reiten, viel mehr gab es nicht für Jungs wie ihn in seinem Heimatort Gescher im Kreis Borken nahe der niederländischen Grenze. Beides gefiel Lammering nicht. Mit 13 war er ein übergewichtiger Sportmuffel.
Paralympics-Qualifikation ab 12. April
Die deutschen Rollstuhlbasketball-Nationalmannschaften haben im vergangenen Jahr bei der EM in Rotterdam die direkte Qualifikation für die Paralympics in Paris verpasst. Seit den Spielen von Tokio 2021 wurden die Felder für das paralympische Turnier verkleinert, bei den Frauen von zehn auf acht und bei den Männern von zwölf auf acht Teams. Entsprechend schwieriger ist die Qualifikation geworden. Eine letzte Chance auf ein Paris-Ticket haben die deutschen Teams bei den so genannten "Repechage"-Turnieren (frz. für "Hoffnungslauf").
Es treffen jeweils acht Teams in zwei Gruppen aufeinander. Innerhalb der Gruppen spielt jeder gegen jeden. Anschließend wird überkreuz (also jeweils der 1. gegen den 4. und der 2. gegen den 3.) gegen die Konkurrenten der anderen Gruppe gespielt. Die vier Sieger dieser Überkreuz-Runde erhalten die letzten vier Paris-Fahrkarten.
12. bis 15. April in Antibes/Frankreich
Deutsche Gegner: Kolumbien (Freitag 13.15 Uhr), Marokko (Samstag 15.30 Uhr) und Italien (Sonntag 18 Uhr), Überkreuz-Spiele am Montag
Die andere Gruppe: Kanada, Niederlande, Iran, Frankreich
Deutscher Kader: Jens-Eike Albrecht (32 / Rotenburg (Fulda) / RSB Thuringia Bulls), Thomas Böhme (32 / Bayreuth / RSV Lahn-Dill), Alexander Budde (23 / Winsen (Luhe) / Hannover United), Nico Dreimüller (26 / Frankfurt a. M. / Rhine River Rhinos), Lukas Glossner (24 / Bergen / RBB München Iguanas), Matthias Güntner (25 / Neuwied / RSV Lahn-Dill), Jan Haller (35 / Gehrden / Hannover United), Aliaksandr Halouski (36 / Minsk (Belarus) / RSB Thuringia Bulls), Tobias Hell (23 / Räckelwitz / Hannover United), Thomas Reier (23 / Köln 99ers), Julian Lammering (20 / BBC Münsterland), Jan Sadler (30 / Burgwedel / Hannover United)
17. bis 20. April in Osaka/Japan
Gegner der Deutschen: Thailand (17. April, 12.45 Uhr), Algerien (18. April, 15 Uhr), Australien (19. April, 15 Uhr), Überkreuz-Spiele am 20. April
Die andere Gruppe: Kanada, Spanien, Frankreich, Japan
Heute ist von Übergewicht oder Sportmuffeligkeit nichts mehr an ihm zu entdecken. Sein Oberkörper ist muskelbepackt, er sieht aus wie ein Muster-Athlet. Julian Lammering ist Rollstuhlbasketball-Profi beim BBC Münsterland und seit dem vergangenen Jahr Nationalspieler.
Er möchte zu den Paralympischen Spielen in Paris, vom 12. bis 15. April kann die deutsche Mannschaft im französischen Antibes eines der letzten Tickets erobern.
Behindertensportler im Blickpunkt: Nicht nur bei den Paralympics sorgen die Atletinnen und Athleten mit Behinderung immer wieder für Furore.
Lammerings Weg zum Rollstuhlbasketball
Der 20-Jährige hat eine Krankheit mit unaussprechlichem Namen: Hereditäre Spastische Spinalparalyse, abgekürzt HSP. Erblich bedingt kommt es bei ihm zu einer zunehmenden Degeneration im Rückenmark. Das führt zu einer erhöhten Muskelspannung (Spastik) und einer Schwäche in der Beinmuskulatur. Das Resultat: Eine fortschreitende Gangstörung.
Der Rollstuhl gibt Lammering die Beweglichkeit, die seine Beine ihm verwehren. Doch er hat lange gebraucht, um das zu entdecken. Er wollte auf zwei Beinen durchs Leben gehen. Wenn es langsam sein sollte, dann eben langsam. Erst als dicklicher Teenie von 13 Jahren entdeckte er den Rollstuhlbasketball für sich - und startete durch. Im Eiltempo.
Nach nur anderthalb Jahren Nationalspieler
Zunächst trainierte er einmal pro Woche in Münster, eine knappe Stunde Fahrt von seinem zu Hause entfernt. Nur anderthalb Jahre später, mit 15, wurde er zu einem Sichtungslehrgang der U-19-Nationalmannschaft eingeladen.
Am Ende wurde er ins U-23-Nationalteam berufen und flog zwei Wochen später mit nach Dubai zu einem Turnier. "Ich war fassungslos. Aber ich habe keine Sekunde gezögert, diese Chance zu ergreifen", erzählt Lammering.
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Alles für den Sport
Aus seinem Rollstuhl steigt er nur noch, wenn Stufen ihm den Weg versperren. Ansonsten genießt er es, auf Rädern so viel schneller zu sein als zu Fuß. Neben seinem Alltags-Rollstuhl besitzt Lammering einen zweiten für den Sport. Eine 14.000 Euro teure Hightech-Sonderanfertigung, die er mit Hingabe pflegt.
Bis zum vergangenen Sommer fuhr Lammering dreimal pro Woche von Gescher nach Warendorf zum Training beim BC Münsterland, pro Strecke bedeutete das gut eine Stunde Fahrt. Seit dem Sommer absolviert er einen Bundesfreiwilligendienst bei seinem Klub und wohnt in Warendorf. Im Herbst will er neben der Profikarriere ein Psychologie-Studium beginnen. Von Bundestrainer Michael Engel, seit Ende 2023 im Amt, gibt es nur Lob.
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Die harte Arbeit zahlt sich aus
Dass Lammering mit seinen nur 20 Jahren schon zu den besten zwölf Rollstuhlbasketball-Spielern Deutschlands gehöre, sei enorm. Der Bundestrainer blickt gelassen nach vorn: "Wenn er seine Arbeitseinstellung weiter lebt, mache ich mir um seine Zukunft keine Sorgen."
Mannschafttraining, "Shooting" und "Fitti" stehen neben Physiotherapie auf Lammerings dicht getaktetem Tagesplan. Bein Shooting wirft er allein auf den Korb, wieder und wieder. Der Korb hängt wie bei den Fußgängern in 3,05 Metern Höhe.
"Wir können nicht dunken", sagt Lammering, "aber alles andere können wir genauso". Und: "Das Wichtigste sind die Überstunden, wenn du den Ball nicht in den Korb wirfst, kann dir kein Trainer helfen." Um nach Paris zu kommen, muss der Ball in den Korb. So einfach ist das.
In "einfach Mensch" erzählen Menschen mit Behinderung und sozial Benachteiligte selbst. Die Reportage entsteht in Zusammenarbeit mit der "Aktion Mensch".