EM-Hauptrunde: Schafft Island das nächste Handball-Wunder?

Sie kommen aus dem fernen Nordatlantik. Aber die isländischen Handballer werden, wenn sie am Donnerstagabend (20.30 Uhr, live im ZDF) in der riesigen Kölner Arena gegen Deutschland einlaufen, von Tausenden Fans unterstützt, die sie schon in der Münchener Vorrunde begleitet hatten. Ein Ausdruck der hohen Erwartungen, mit denen die Nachfahren der Wikinger in die Europameisterschaft gestartet waren.

Unter den Zuschauern ist auch die Familie des deutschen Bundestrainers. Vater und Onkel seien dabei, berichtete Alfred Gislason und schob lächelnd hinterher: "Und ich bin gespannt, ob sie für Deutschland oder Island sind." Auch für ihn, der Island bei der WM 2007 in das Viertelfinale coachte, ist es also ein besonderes Spiel.

In der EM-Vorrunde ist das Team der Färöer – völlig zurecht – als Handballwunder gefeiert worden. Aber der isländische Handball ist ebenfalls ein Mirakel. Denn die Insel, die nur 330.000 Einwohner hat, zählt seit vier Jahrzehnten im Handball zur erweiterten Weltspitze. Einer der ersten internationalen Stars der Nordmänner hieß übrigens Gislason, der mit TuSEM Essen 1986 und 1988 Deutscher Meister wurde.

Ein weiterer Legionär, Kristjan Arason, trug damals das Trikot des VfL Gummersbach und spielte vorher in Hameln. Dessen hochbegabten Sohn holte Gislason, als er noch Trainer des THW Kiel war, bereits als 18-Jährigen in die Bundesliga. Sein Name: Gisli Thorgeir Kristjansson. Also denjenigen Spielmacher, der im vergangenen Sommer mit dem SC Magdeburg sensationell die Champions League gewann und gemeinsam mit Landsmann Omar Ingi Magnusson einen völlig neuen Handballstil prägte.

Diese neue Art beruht darauf, über gewonnene Zweikämpfe entweder Durchbrüche zu erzwingen oder durch die Überzahlsituationen die Flügelspieler freizuspielen. Kristjansson, der Mann mit dem sagenhaften Antritt, ist in diesem System die Schlüsselfigur – nun auch in der isländischen Nationalmannschaft. Sein Backup beim SCM und im Nationalteam, Janus Smarasson, kann ebenfalls jede Deckung auseinanderreißen.

Das aktuelle Team wird auf Island als die zweite große Generation nach der Mannschaft um den legendären Olafur Stefansson gehandelt, die 2008 in Peking olympisches Silber und 2010 EM-Bronze gewann. Da neben den drei Magdeburger Rückraumstars aber weitere starke Individualisten wie Linksaußen Bjarki Mar Elisson und Rechtsaußen Sigvaldi Gudjonsson in der Königsklasse erprobt sind, dürfte der aktuelle isländische Kader der nominell stärkste aller Zeiten sein – stärker als im letzten Duell mit Deutschland bei der WM 2019 (19:24) allemal.

Denn auch Altstar Aron Pálmarsson, 33, der mit dem THW Kiel zweimal die Champions League gewann, ist immer noch ein gefährlicher Rückraumspieler. Zudem verfügen die Nordeuropäer inzwischen über starke Torhüter. Der erfahrene Björgvin Gustavsson, der schon 2008 dabei war und gegen Deutschland sein 262. Länderspiel bestreitet, bildet hier ein Gespann mit dem 23-Jährigen Viktor Hallgrimsson, der schon so stark ist, dass sich der THW Kiel für ihn interessiert.

Kristjansson weiter: "Nur dann können wir zu den großen Ländern gehören." Es reiche nicht, Spieler in vielen guten Klubs zu haben, mahnte der neue Trainer Snorri Gudjonsson: "Wir müssen als Team zusammenarbeiten und uns durchsetzen."

Das gelang bei der EM in Deutschland indes bisher nicht. Schon beim 27:27-Remis gegen Serbien benötigte Island viel Dusel, um in den letzten 90 Sekunden drei Treffer aufzuholen. Im Duell mit Außenseiter Montenegro gelang nur ein knapper Sieg. Und gegen die Ungarn gingen die Isländer gar mit 25:33-Toren unter, weshalb sie nun wie die Deutschen mit 0:2-Punkten in die Hauptrunde starten.

Auch für Island gilt daher in Köln das Motto, das der deutsche Bundestrainer Alfred Gislason vor dem Hauptrundenauftakt ausgab: "Wir haben jetzt vier Endspiele."