Modellprojekt mitten in Berlin: Gärtnern zwischen Gräbern
Mitten in Berlin:Modellprojekt: Gärtnern zwischen Gräbern
von Claudia Hempel, Nils Werner
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Selbst mitten in der Stadt steckt Potenzial für den Gemüseanbau - auch dort, wo man es zunächst nicht vermutet: auf einem Friedhof. Ein Modellprojekt in Berlin.
Robert Shaw ist das "Urgestein" hinter dem Neuköllner Friedhofs-Garten-Team.
Quelle: André Straub, 2023
Robert Shaw ist Gründungsmitglied einer Gruppe von Stadtgärtnerinnen und -gärtnern, die sich "Kollektiv Prinzessinnengärten" nennt. Ihre Idee: Einen Gemeinschaftsgarten gründen, in dem sich Menschen treffen können, gemeinsam lernen und gärtnern können.
Doch wie soll man in der Millionenmetropole Berlin, einer Stadt, in der jede Brachfläche zu Bauland mutiert, ein Stück Grün finden? Wo gibt es noch öffentliche Flächen, auf denen man Gemüse anbauen kann?
Robin liebt die Natur und möchte seine Passion mit so vielen Menschen wie möglich teilen. Auf Instagram zeigt er, was in einem Garten alles so wachsen muss, um die Berliner Artenvielfalt zu unterstützen.04.08.2023 | 1:46 min
Freiflächen auf Friedhöfen zum Anbau nutzen?
Irgendwann stand die abenteuerliche Idee im Raum: Was wäre mit einem Friedhof? Dort gibt es Freiflächen und Grün. Und fragen kostet nichts. Umso erstaunter ist das Kollektiv, als der Evangelische Friedhofsverband positiv auf ihre Anfrage reagiert. Robert Shaw erinnert sich:
Was sie auch nicht wussten: Friedhöfe leiden unter Kostendruck. Ihre Ausgaben für Friedhofspflege, Straßenreinigung, Wegesanierung und Baumschnitt steigen, während die Einnahmen drastisch sinken.
Urnenbestattungen spült weniger Geld in die Friedhofskasse
Die sogenannten Grabnutzungsgebühren sind bei einem Urnengrab viel geringer. Ergo: Es landet deutlich weniger Geld in der Friedhofskasse.
Ein Urnengrab braucht auch viel weniger Platz. Das wiederum heißt: Auf dem Friedhof selbst entstehen jede Menge Freiflächen, die langsam verwildern, weil das Geld für die Pflege der parkartigen Anlagen fehlt.
Genau darin lag die Chance für das Berliner "Kollektiv Prinzessinnengärten". Eigentlich ist es für beide Seiten - den Friedhof und die Gärtnerinnen und Gärtner - eine Win-Win-Situation.
Doch es gab auch Skepsis: Wie werden die Trauernden damit umgehen, wenn ein paar Meter weiter auf dem Friedhof gegärtnert wird? Ist das nicht pietätlos? Das Gartenteam nahm sich Zeit und fragte die Hinterbliebenen. Und die fanden die Idee eines Gemüseackers auf einem Gottesacker eher reizvoll denn störend.
Auch auf dem Wiener Zentralfriedhof werden Freiflächen an Hobbygärtner vermietet.01.06.2023 | 1:58 min
Bodengutachten beauftragt
Blieb noch ein letztes Problem: Niemand hatte vorher je auf einem Friedhof Gemüse angebaut. Geht das denn überhaupt? Kann man Gemüse überhaupt essen, das in derselben Erde wächst, in der früher mal eine Leiche lag? Also wurde ein Bodengutachten beauftragt.
Das Ergebnis: Keinerlei Schadstoffe im Boden. Die Fachleute für Bodenkunde waren erstaunt, hier einen der arten- und humusreichsten Böden zu finden, den sie jemals in Berlin untersucht hatten. Damit stand dem Projekt Gemüsegärtnern auf dem Friedhof nichts mehr im Wege.
Friedhof als Ort der Begegnung im Kiez
Und noch etwas konnten sie jetzt endlich auf den Weg bringen: eine neue Art von Kiez-Gemeinschaft. Denn mindestens genauso wichtig wie das Gärtnern, war es Robert Shaw und den anderen vom Kollektiv, dass auf dem Friedhof neue Orte des Austauschs und der Begegnung entstehen. Für Erwachsene und Kinder, Alteingesessene und Neuzugezogene gleichermaßen.
Woche für Woche trifft sich die Ackergruppe auf dem Neuköllner St. Jacobi-Friedhof.
Quelle: André Straub, 2023
"Der Schlüsselbegriff dessen, was mir wirklich wichtig ist und was wir hier machen, ist: Wir schaffen einen Ort der guten Nachbarschaft", erklärt Robert Shaw. "Gute Nachbarschaft heißt nicht, dass alles immer Friede, Freude, und Eierkuchen ist. Es kann auch mal einen Konflikt geben in der guten Nachbarschaft."
Und das Berliner Modell macht Schule, denn deutschlandweit leiden Friedhöfe unter dem gleichen Problem. Die Lösung: Altbekanntes neu denken.