Für seltene Erkrankungen gibt es kaum Behandlungen. In Tübingen wird eine genbasierte Therapie eingesetzt, die allein auf einen einzigen Patienten zugeschnitten ist.
Bei der RNA-Therapie kreieren die Forscher im Reagenzglas ein sogenanntes Antisense-Oligonukleotid, das sich dann exakt über die mutierte Stelle im Erbgut des Patienten legt.
Quelle: dpa
Poyraz ist immer in Bewegung. Er kann nicht stillstehen, schlecht das Gleichgewicht halten. Seine Sprache ist undeutlich. Dass etwas nicht stimmt, bemerken seine Eltern, als er gut eineinhalb Jahre alt ist. Statt aufwärts geht es bergab.
Es beginnt eine Ärzteodyssee, schließlich die Diagnose: Ataxia teleangiectasia. Eine schwere Erbkrankheit, die zum Verlust der Gehfähigkeit führt und zur Anfälligkeit für schwere Bronchitis und Leukämie. Kinder wie Poyraz werden in der Regel nicht alt.
Ein Forschungsteam hat einen kurzen RNA-Schnipsel, ein sogenanntes Antisense Oligonukleotid (ASO), entwickelt, das passgenau auf die Genmutation von Poyraz zugeschnitten ist.28.02.2023 | 5:26 min
Nur eine Handvoll Kinder hat genau diesen Gendefekt
Poyraz' Krankheit beruht auf einem sehr seltenen Gendefekt. Beide Elternteile sind Träger der Mutation, aber gesund. Die Genveränderung führt dazu, dass in den Zellen ein bestimmtes Gen nicht richtig abgelesen werden kann. Dadurch wiederum wird ein notwendiges Eiweiß nicht gebildet. Das führt zum Tod von Zellen in seinem Kleinhirn und damit zu fortschreitenden Symptomen.
Üblicherweise dauert es 10 bis 15 Jahre, bis ein Medikament auf den Markt kommt. Poyraz kann so lange nicht warten. Und kaum ein Unternehmen steckt Forschungsgelder in Therapien, die nur wenigen Menschen helfen. Studien mit Tausenden Betroffenen, wie soll es die geben bei einer so seltenen Krankheit?
Forschungsnetzwerk für maßgeschneiderte Therapien
"1 Mutation - 1 Medicine", so heißt ein europäisches Forschungsnetzwerk, das maßgeschneiderte Therapien entwickeln will für Patienten mit einer bestimmten Genmutation. Die Wissenschaftler*innen arbeiten eng mit einem transatlantischen Netzwerk zusammen. Poyraz wurde zunächst in Boston behandelt.
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RNA-Schnipsel aus dem Labor soll Gendefekt ausbremsen
Die Forschenden kreieren im Reagenzglas ein sogenanntes Antisense-Oligonukleotid, kurz ASO. Es legt sich dann exakt über die mutierte Stelle im Erbgut des Patienten, wie ein passender Schlüssel fürs Schlüsselloch. Dadurch kann das Gen wieder korrekt abgelesen und das fehlende Eiweiß erneut gebildet werden.
Poyraz reagiert ohne Nebenwirkungen auf die Therapie, die ihm alle drei Monate ins Nervenwasser injiziert wird. Ob das seine Krankheit aufhält, lässt sich aber noch nicht sicher sagen. Seine Eltern stellen in den letzten Monaten jedenfalls keine Verschlechterung fest.
In der Europäischen Union gilt eine Erkrankung als selten, wenn nicht mehr als 5 von 10.000 Menschen von ihr betroffen sind. Da es mehr als 6.000 unterschiedliche Seltene Erkrankungen (SE) gibt, ist die Gesamtzahl der Betroffenen trotz der Seltenheit der einzelnen Erkrankungen hoch. Allein in Deutschland leben Schätzungen zufolge etwa vier Millionen Menschen mit einer Seltenen Erkrankung, in der gesamten EU geht man von 30 Millionen Menschen aus.
Seltene Erkrankungen bilden eine Gruppe von sehr unterschiedlichen und zumeist komplexen Krankheitsbildern. Die meisten Seltenen Erkrankungen verlaufen chronisch, gehen mit gesundheitlichen Einschränkungen und/oder eingeschränkter Lebenserwartung einher und führen häufig bereits im Kindesalter zu Symptomen. Etwa 80 Prozent der Seltenen Erkrankungen sind genetisch bedingt oder mitbedingt, selten sind sie heilbar.
Seltene Erkrankungen weisen einige Besonderheiten auf: Dazu zählen vordringlich die geringe Anzahl an Betroffenen mit einer bestimmten Seltenen Erkrankung und die überregionale Verteilung, was auch die Durchführung von Studien erschwert. Darüber hinaus gibt es meist nur eine geringe Anzahl von räumlich verteilten Expertinnen und Experten, die Menschen mit der jeweiligen Seltenen Erkrankung versorgen können und die Erkrankung weiter erforschen. Auch sind die Wege zu guten Behandlungs- und Versorgungsmöglichkeiten nicht immer auf Anhieb ersichtlich. Dies kann dazu führen, dass die Betroffenen sich mit ihrer Erkrankung allein gelassen fühlen und die Diagnose erst deutlich verzögert gestellt wird.
Die Seltenheit der einzelnen Erkrankungen erschwert also aus medizinischen und ökonomischen Gründen häufig die Forschung und die medizinische Versorgung der betroffenen Patientinnen und Patienten. Diagnose und Therapie der Erkrankungen stellen alle Beteiligten (Betroffene, Angehörige, medizinisches, therapeutisches und pflegerisches Personal) vor besondere Herausforderungen.
Quelle: Bundesgesundheitsministerium
Baris Kurt glaubt an die Wissenschaft. Wenn etwas helfe, dann nur das, erläutert der Vater von Poyraz.
Neuer Weg in der Medikamentenentwicklung
Die Forschenden sehen in der Idee, Menschen mit seltenen Erbkrankheiten mit RNA-Therapien zu behandeln, eine große Zukunft. Sie wollen künftig weitere ASOs, kurze RNA-Schnipsel, im Labor entwickeln. Stets individuell angepasst für die jeweilige Mutation.
Baukasten für RNA-Therapien steht
Der Baukasten steht also fest, nur ein kleines Steinchen muss ausgetauscht werden. Wenn das Prinzip funktioniert, könnten künftig in kurzer Zeit neue individuelle Wirkstoffe hergestellt werden.
Poyraz fährt bald wieder mit seinen Eltern ins Zentrum für Seltene Erkrankungen nach Tübingen. Dort bekommt er seine nächste Spritze und wird wieder gründlich untersucht. Wenn die RNA-Behandlung anschlägt, wäre das ein Riesenschritt in der Behandlung seltener Krankheiten. Nicht nur für ihn.
Als Anlaufstelle für Betroffene und Behandelnde gibt es in Deutschland derzeit rund 30 Zentren für Seltene Erkrankungen (ZSE). Diese ZSE verfügen über spezielles Know-how zu bestimmten Krankheitsgruppen. Eines davon ist das Zentrum für Seltene Erkrankungen in Tübingen. Dort bieten 16 Fachzentren eine breite multiprofessionelle Expertise für bestimmte seltene Erkrankungen an.
Auf die richtige Diagnose müssen Betroffene oft sehr lange warten - derzeit durchschnittlich 4,8 Jahre. Ein zentrales Ziel des ZSE Tübingen ist es daher, eine schnellere und gezieltere Diagnosestellung zu gewährleisten sowie eine professionelle Weiterbehandlung einzuleiten und ‐ wo möglich – Therapieempfehlungen auszusprechen. Dies geschieht in den integrierten Fachzentren aber auch über Kooperationen und Vernetzung mit anderen Spezialisten in Deutschland und Europa.