Wenn Krankenkassen bei Psychotherapieplätzen sparen
Mangel an Psychotherapeuten:Wenn Krankenkassen bei Therapieplätzen sparen
von Stephanie Schmidt
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In Deutschland gibt es genügend Psychotherapeuten. Trotzdem müssen Patienten oft monatelang auf ihren Behandlungsbeginn warten. Eine Folge des gesetzlichen Krankenkassensystems.
Etwa 17,8 Millionen Deutsche erkranken jährlich an einer psychischen Erkrankung. Viele brauchen professionelle Hilfe, doch die ist gar nicht so leicht zu finden. Auch Nicolas Dinkel landet statt in einer Therapie in telefonischen Warteschleifen.02.06.2023 | 5:04 min
Nicolas Dinkel ist Schauspieler und redet offen über seine Depressionen. Er will einen Beitrag leisten zur Enttabuisierung. Psychische Krankheiten sollten selbstverständlicher werden, so der Schauspieler. "In meiner Branche findet ein Umdenken statt und wenn ich schauspielern kann, geht es mir gut. Doch es gab auch andere Momente. Tiefpunkte in meinem Leben."
Auf das therapeutische Erstgespräch folgt die Warteliste
Seit knapp sechs Monaten versucht Dinkel nun, einen Therapieplatz in Berlin zu finden. Vergeblich. Immer wieder hat er die gleiche Erfahrung. "Ich führe Erstgespräche und am Ende erfahre ich, dass ich auf einer Warteliste lande."
So wie Nicolas Dinkel ergeht es in Deutschland vielen psychisch erkrankten Menschen. Woran liegt das? Genug Psychotherapeuten gibt es, der Beruf ist beliebt. Was aber fehlt, sind Psychotherapeuten, die auch einen kassenärztlich zugelassenen Sitz haben, damit die Therapie mit der Krankenkasse abgerechnet werden kann.
Im Notfall bleibt oft nur eine Privatpraxis. Dort werden die Kosten von den gesetzlichen Krankenkassen nur in Ausnahmefällen übernommen.
Hilfe bei der Suche nach einem Therapieplatz:
Quelle: dpa
Die Terminservicehotline ist unter 116117 rund um die Uhr erreichbar. Innerhalb von vier Wochen muss es dort das Angebot für ein Gespräch in einer psychotherapeutischen Praxis geben; oft gibt es nur ein Erstgespräch.
Krankenkasse anschreiben und eine Liste mit Psychotherapeut*innen anfordern, die Kapazitäten haben.
Hier arbeiten Therapeut*innen in Ausbildung. Sie haben ihr Psychologiestudium bereits hinter sich und befinden sich in der Ausbildung im jeweiligen Fachbereich. Die Wartezeiten sind hier oft kürzer.
Wer bei fünf kassenzugelassenen Therapeut*innen keinen Termin innerhalb der nächsten drei Monate erhält und das belegen kann, kann bei der Krankenkasse eine Kostenerstattung für einen privaten Therapeuten beantragen.
Wartezeiten auf Behandlungsbeginn auf dem Land am höchsten
Wie viele Sitze es in einer Region gibt, legt der Gemeinsame Bundesausschuss in Berlin fest. Hier sitzen Vertreter der Ärzte, der Krankenkassen und der Krankenhausbetreiber zusammen.
Grob lässt sich sagen, dass in städtischen Regionen für rund 3.000 Menschen ein Psychotherapeut bereitsteht, der von den Kassen finanziert wird. Für den ländlichen Raum wurde festgelegt, dass ein Psychotherapeut für rund 6.000 Menschen ausreicht.
Man geht davon aus, dass Landbewohner für die ärztliche Versorgung auch in die Städte fahren und darüber mitversorgt werden. Die Folge: Auf dem Land sind die Wartezeiten am längsten, der Druck in den Städten wächst.
Was, wenn Angst das Leben bestimmt? Und muss es überhaupt so weit kommen? Und was ist Angst überhaupt? Psychologe Leon Windscheid klärt auf.22.07.2023 | 18:53 min
Durchschnittliche Wartezeit auf Behandlungsbeginn: 142 Tage
Diese Erfahrung kann der Spitzenverband der Krankenkassen nicht bestätigen. Bei einer GKV-Versichertenbefragung kommt man zu dem Schluss, "dass 79 Prozent der Befragten innerhalb von vier Wochen nach Kontaktaufnahme ein Erstgespräch bekommen und vom Erstgespräch bis zum Beginn der Therapie dauert es für 93 Prozent dann maximal vier Wochen".
Diese Zahlen sind für die Bundespsychotherapeutenkammer reine Desinformation, so der Vizepräsident Nikolas Melcop. Er nennt die Datenlage der GKV zu klein: "Wir haben objektive Abrechnungsdaten der Kassenärztlichen Bundesvereinigung ausgewertet."
Dipl.-Psychologe Dr. Nikolaus Melcop im Gespräch02.06.2023 | 7:20 min
Eine Lösung: Zahl der Kassensitze anheben
Für Melcop ist dringend erforderlich, die Zahl der Kassensitze anzuheben und das Angebot nach dem Bedarf zu richten. Das könnte nach Auffassung von Melcop zum Beispiel dadurch erreicht werden, indem in der Bedarfsplanungs-Richtlinie mehr Psychotherapeuten pro Einwohner vorgesehen würden. "Damit würden zusätzliche Sitze insbesondere in strukturschwachen und ländlichen Gebieten entstehen.“
Quelle: Christin Klose/dpa-tmn/Archivbild
Psychotherapeut*in ist, wie Ärzt*in, eine gesetzlich geschützte Berufsbezeichnung. Als Psychotherapeut*in darf sich nur bezeichnen, wer eine staatlich geregelte Aus- bzw. Weiterbildung absolviert hat und psychische Krankheiten mit wissenschaftlich anerkannten psychotherapeutischen Verfahren behandelt. Psychotherapeut*in dürfen sich folgende Berufsgruppen nennen:
Sie haben nach einem Studium der Psychologie eine entsprechende psychotherapeutische Ausbildung abgeschlossen.
Sie haben nach einem Studium der Psychologie oder Pädagogik eine psychotherapeutische Ausbildung zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen abgeschlossen.
Diese Bezeichnung dürfen auch Fachärzte mit einer entsprechenden psychotherapeutischen Qualifikation führen.
Sie haben Medizin studiert und eine Weiterbildung zur Fachärzt*in für Psychiatrie und Psychotherapie absolviert. Zu den ärztlichen Psychotherapeut*innen zählen ferner die Fachärzt*innen, die nach dem Medizinstudium eine Weiterbildung in Psychosomatischer Medizin und Psychotherapie absolviert haben. Es gibt auch Fachärzt*innen, die sich auf Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie spezialisiert haben.
Sie haben Psychologie studiert, aber keine zusätzliche Ausbildung in Psychotherapie. Deshalb dürfen sie auch keine psychischen Erkrankungen behandeln. Sie sind vor allem in der Forschung, im Personalwesen, in psychologischen Diensten oder Beratungsstellen und der Organisationsberatung tätig.
Sie dürfen sich nicht als Psychotherapeut*innen bezeichnen. Sie firmieren deshalb oft unter "Heilpraktiker*in für Psychotherapie"“ oder "Heilpraxis für Psychotherapie". Bei ihnen ist nicht kassenärztlich geklärt, ob sie ausreichend qualifiziert sind, um psychische Krankheiten mit wissenschaftlich anerkannten Verfahren zu behandeln; denn für sie gibt es keine staatlich geregelte Ausbildung.
Coach ist keine geschützte Berufsbezeichnung. Jeder darf sich so nennen.
Auch die Therapeuten kommen an ihre Grenzen
Martina Hahn ist seit 25 Jahren Traumatherapeutin in Neuss und Mitglied im Aktionsbündnis "Therapieplätze jetzt". Ihre Warteliste ist lang - mittlerweile im Schnitt zwei Jahre. Der Frust der Patienten kommt auch bei ihr an.
"So komme ich auch an meine Grenzen,vor allen Dingen mit den Auflagen, die wir ja dazu gekriegt haben", ergänzt Martina Hahn.
Seit 2017 müssen Psychotherapeuten pro Woche 100 Minuten als Sprechstunde anbieten. Erstgespräche, die bei einem Akutbedarf helfen sollen, aber oft ins Leere laufen. "Wir verwalten einen Mangel. Das führt zu nichts und ist am Ende teurer. Wenn psychische Erkrankungen chronisch werden, kostet die Behandlung viel mehr."