Amusie: Wie Musik und Sprache den Alltag erschweren
Viele von Amusie betroffen:Wenn Musik hören zur Qual wird
von Susanne Gentsch
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Musik berührt viele Menschen. Oft weckt sie Erinnerungen oder Emotionen. Konzerte können Euphorie auslösen. Nicht für Menschen mit Amusie. Eine Betroffene erzählt.
Schon in der Schule hat Jasmin Pfeifer Probleme, Tonhöhen zu erkennen. Wie sie herausgefunden hat, was dahintersteckt und warum sie heute selbst dazu forscht.17.08.2023 | 5:25 min
Wenn Jasmin Pfeifer an Musik denkt, verbindet sie damit keine positiven Erinnerungen:
Amusie: Töne erkennen ist schwierig
Als Schülerin war Jasmin Pfeifer ehrgeizig, einzig im Musikunterricht hatte sie große Schwierigkeiten. Eine Tonleiter beim Klavierspiel erkennen - für sie unmöglich. "Das hat auch immer zu Streit mit meinem Musiklehrer geführt. Aber von der Diagnose Amusie wusste ich natürlich nichts", erinnert sich die heute 37-Jährige.
Lange werden ihre Einschränkungen nicht ernstgenommen. Sie selbst denkt, sie müsse sich einfach mehr anstrengen. Als sie auch in ihrem Linguistik-Studium Probleme hat, zum Beispiel in der Phonetik Töne auseinanderzuhalten, wird sie stutzig: "Ich habe es einfach nicht hinbekommen, was wahnsinnig frustrierend für mich war." Sie forscht nach und stellt fest: Ihre Beschwerden passen zu dem Phänomen Amusie.
Ungefähr 15 Prozent der Weltbevölkerung können nicht singen, kein Instrument spielen oder beschreiben sich als unmusikalisch. Doch wann handelt es sich wirklich um Amusie?
Im Gegensatz zu unmusikalischen Menschen ist insbesondere die Wahrnehmung von Tonhöhenunterschieden für amusische Menschen ein großes Problem. Aber noch einiges mehr:
bekannte Melodie ohne Liedtext zu erkennen
falsches/schiefes Singen zu erkennen
Noten unterschiedlicher Klangfarbe zu unterscheiden
Töne oder Melodien korrekt zu (re)produzieren
Rhythmen zu produzieren oder zu unterscheiden
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Amusie-Diagnose nicht einfach
Die Diagnose gestaltet sich schwierig, denn in Deutschland gab es lange keine Untersuchungsverfahren. Pfeifer begann vor gut zehn Jahren selbst nachzuforschen und stieß auf einen Onlinetest der Montreal Battery of Evaluation of Amusia, kurz MBEA. Der testet u.a. Tonhöhenwahrnehmung und Rhythmusgefühl. Diesen Test ließ Jasmin Pfeifer bei sich durchführen. Das Ergebnis: Amusie.
Pfeifer wollte mehr über dieses Phänomen herausfinden und bot den Test an der Universität Düsseldorf an. So konnte sie eine Studie mit über 300 Probanden durchführen. Dabei stellte sich heraus, dass in Deutschland etwa 1,6 Millionen Menschen von Amusie betroffen sind.
Hörvermögen bei Amusikern intakt
Sie gehört in Deutschland zu den führenden Amusie-Forschenden und beschäftigt sich vor allem mit der angeborenen Amusie. Was genau dahintersteckt, ist noch unklar. Man weiß, dass es Verzögerungen in der Verarbeitung akustischer Signale gibt. Das Hörvermögen an sich ist bei Amusikern intakt.
Es gibt zwei Formen der Amusie. Der Test der MBEA wurde ursprünglich für die erworbene, also nicht angeborene Amusie entwickelt. Der Unterschied:
Die kongenitale (angeborene) Amusie ist eine genetisch bedingte Wahrnehmungsstörung. Sie hängt häufig mit einer Sprechstörung zusammen. Etwa vier Prozent der Weltbevölkerung sind davon betroffen.
Eine erworbene Amusie tritt infolge von Hirnschäden am Frontal- oder Temporallappen oder am Hörkortex auf, z. B. nach einem Unfall oder Schlaganfall. Nach einem Schlaganfall leiden, je nach betroffener Hirnregion, bis zu 70 Prozent der Betroffenen an einem Defizit im musikalischen Bereich. Diese Form ist die häufigere Ursache von Amusie.
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Amusie erschwert auch die Sprachwahrnehmung
Anders als der Name vermuten lässt, bezieht sich Amusie nicht nur auf Musik, sondern auch auf die Sprachwahrnehmung. "Wir verlassen uns auch in Sprache auf Rhythmus und auch da sind Tonhöhen wichtig", weiß Pfeifer. Sprachgestaltungsmittel wie etwa Ironie oder auch der Unterschied zwischen einer Aussage und einer Frage sind für die 37-Jährige schwierig zu unterscheiden.
Das sei aber bei Ironie nicht der Fall.So komme es im Alltag manchmal zu Missverständnissen.
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Musik und Co. werden vermieden
Sprache und Musik sind allgegenwärtig. Für Jasmin Pfeifer bedeutet das im Alltag häufig Konzentrationsschwierigkeiten, denn Musik lenkt sie ab, zum Beispiel beim Einkaufen. Ein Konzert mit Streichinstrumenten fühlt sich für Pfeifer so an: "Ich würde die Wände hochgehen. Das ist für mich, als würde jemand mit den Fingern über eine Kreidetafel kratzen."
Auch Rhythmen zu halten, beispielsweise beim Tanzen, stellt Amusiker vor große Probleme. Pfeifer hat deshalb Vermeidungsstrategien entwickelt. Sie versuche generell Orte mit viel Musik zu meiden.
Inzwischen gelingt es ihr oft, die Musik unterbewusst auszublenden. So kann sie ihren Alltag gut bewältigen.
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von Markus Böhle
mit Video
Bislang keine Behandlung von Amusie
Obwohl Amusie eine offizielle Diagnose nach ICD-10 ist und auch Jasmin Pfeifer schon lange dazu forscht, gibt es bislang keine Behandlungsmöglichkeiten. Ihr Ziel ist es, weiter nach Therapieansätzen suchen.
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