Amyotrophe Lateralsklerose: Zehn Jahre Ice Bucket Challenge

    ALS: Krankheit und Forschung:Zehn Jahre nach der Ice Bucket Challenge

    von Maurice Göbel
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    Der Physiker Stephen Hawking lebte mehr als 50 Jahre mit ALS. Eine Ausnahme, denn meist führt die Erkrankung innerhalb weniger Jahre zum Tod. Hoffnung machen zukünftige Therapien.

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    ALS schädigt motorische Nervenzellen

    ALS ist eine neurodegenerative Erkrankung. Das bedeutet, dass Nervenzellen und ihre Funktion oder Struktur fortlaufend geschädigt werden. Bei ALS sind die motorischen Nervenzellen im Gehirn und Rückenmark betroffen. Diese sorgen für die Steuerung der Muskulatur, ermöglichen etwa das Laufen, das Heben der Arme, aber auch das Atmen. Ihr Verlust sorgt dafür, dass ALS-Patienten meist die Fähigkeit verlieren, sich zu bewegen, zu sprechen oder selbstständig zu atmen.
    Frau, lächelnd schaut in der Mitte auf Bildschirm, rechts und links daneben schauen mit.
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    Wie ALS beginnt

    Pro Jahr erhalten in Deutschland rund 2.000 Menschen die Diagnose ALS, meist im Alter zwischen 50 und 70 Jahren. Gut zehn Prozent erkranken früher, noch vor dem 40. Lebensjahr. Erste Symptome sind häufig eine gestörte Feinmotorik der Hand, eine Fußheberschwäche oder eine verwaschene Sprache, erklärt der Experte.

    ALS beginnt an einer Körperstelle, etwa an einer Hand, und breitet sich von dort auf benachbarte Muskelpartien aus.

    Prof. Dr. Thomas Meyer, Neurologe, Charité Berlin

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    ALS entsteht meist sporadisch

    Bei knapp 12,5 Prozent der Betroffenen liegen bestimmte genetische Veränderung vor, die eine ALS hervorrufen können. Sind Familienmitglieder betroffen, spricht man von einer "familiären ALS". Ohne betroffene Angehörige geht man von einer "sporadischen ALS" aus. Sie ist mit knapp 94 Prozent am häufigsten. Forscher vermuten als Ursache ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren.

    Im Schnitt versterben Patienten etwa drei bis fünf Jahre nach der Diagnose, meistens an Komplikationen der eingeschränkten Atmung oder an Infekten. Wie schnell sich die ALS im Krankheitsverlauf auf umliegende Muskelpartien und schließlich auf den gesamten Körper ausbreitet, ist sehr unterschiedlich. Bei manchen Patienten kann es Monate, bei anderen nur wenige Wochen dauern. Bei etwa zehn Prozent der Erkrankten treten besonders langsame Verläufe auf. Einige von ihnen leben mehr als zehn Jahre mit der Erkrankung.

    Für die meisten Verläufe gilt, dass die Betroffenen nach und nach auf Hilfsmittel wie einen Rollstuhl, Schluckhilfen oder Beatmungsgeräte angewiesen sind. So entwickeln knapp 80 Prozent aller Betroffenen Schluckstörungen im Krankheitsverlauf. Etwa 30 Prozent aller Patienten hierzulande werden mit Maskenbeatmung und gut zehn Prozent invasiv über einen Luftröhrenschnitt beatmet. Diese Hilfsmaßnahmen können die Überlebenszeit positiv beeinflussen.

    Wo die ALS-Forschung heute steht

    Aktuelle Forschungsansätze lassen sich laut dem Neurologen in zwei Kategorien einordnen: genetische und nicht genetische Ansätze.

    Bei den genetischen Ansätzen ist die Strategie, den Abbauprozess der Nervenzellen von Anfang an zu verhindern.

    Prof. Dr. Thomas Meyer, Neurologe, Charité Berlin

    Dafür kämen etwa Genersatztherapien in Frage, bei der Gensequenzen eingeschleust werden, die die Funktion defekter Gene übernehmen.

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    Auch eine Behandlung mit Antisense-Oligonukleotiden (ASO) wird erprobt. "ASO wirken wie eine Art Gegengift und sollen auf genetischer Ebene Fehler neutralisieren", erklärt Meyer. Selbst Verfahren wie die Genschere CRISPR/Cas könnten hier eines Tages zum Einsatz kommen, um Fehler in den Genen zu reparieren.
    Nicht-genetische Ansätze dagegen verfolgen ein anderes Ziel, sagt der Neurologe.

    Ist die Krankheit ausgebrochen, geht es darum, die Nervenzellen zu schützen.

    Prof. Dr. Thomas Meyer, Neurologe, Charité Berlin

    Dieser Schutz könnte zum Beispiel die Ablagerung von Eiweißen unterbinden. Denn diese Eiweiße sollen die Nervenzellen schädigen - wie auch bei anderen neurodegenerativen Erkrankungen, zum Beispiel der Alzheimer Demenz.

    Vor allem drei Gründe machen die Suche nach Therapieansätzen, aber auch nach Medikamenten, laut Experten besonders schwierig:

    • Die betroffenen Nervenzellen sind deutlich komplexer als andere Körperzellen.
    • Material wie Gewebeproben lässt sich nicht einfach aus Gehirn und Rückenmark entnehmen.
    • Die Blut-Hirn-Schranke schirmt das Gehirn vor vielen Medikamenten ab.

    Wird ALS irgendwann heilbar?

    ALS gilt bislang als unheilbar. Allerdings können Betroffene mit Veränderungen im SOD1-Gen seit 2022 gezielt therapeutisch behandelt werden. Diese Mutation tritt bei gut zweieinhalb Prozent der ALS-Patienten auf. Das eingesetzte Medikament Tofersen aus der Gruppe der ASO soll das fehlerhafte Gen daran hindern, ein schädliches Protein zu erzeugen. Dadurch soll der Abbau der motorischen Nervenzellen verlangsamt oder sogar zum Stillstand gebracht werden.
    Den meisten ALS-Patienten bleibt aktuell nur die Hoffnung auf den medizinischen Fortschritt. Neurologe Thomas Meyer ist zuversichtlich, dass man in zehn Jahren weitere Formen und Verläufe der ALS deutlich verlangsamen oder gar zum Stillstand bringen könnte.

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