Abnehmspritze bei Adipositas "als frühe Therapieoption"
Interview
Kampf gegen Adipositas:Abnehmspritze "als frühe Therapieoption"
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Purzelnde Kilos, weniger Appetit: Abnehmspritzen sorgen bei Übergewichtigen für Euphorie. Ärztin Sylvia Weiner sieht Chancen, aber auch Risiken bei der Behandlung von Adipositas.
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Jeder fünfte Mensch in Deutschland gilt als adipös. Die gesellschaftlichen und medizinischen Herausforderungen, die mit Übergewicht und Adipositas als Volkskrankheit einhergehen, sind enorm. Sylvia Weiner ist Spezialistin für Adipositas und metabolische Chirurgie. Sie ordnet ein, welche Rolle medikamentöse Wirkstoffe wie Semaglutid und Tirzepatid bei der Behandlung spielen können.
ZDFheute: Welche Rolle können Abnehmspritzen bei der Behandlung der Adipositas spielen?
Dr. Sylvia Weiner: Wir wollen mit den Medikamenten nicht schwer erkrankte Menschen behandeln. Da haben wir andere Optionen, wie die operativen Therapien.
Das wäre der große langfristige Ansatz. Denn wir schaffen es ja sowieso nicht, auch nicht in den nächsten zehn Jahren, alle Menschen einer Operation zuzuführen, die sie überhaupt bräuchten. Das schaffen wir niemals.
Quelle: Sana Klinikum Offenbach GmbH
… ist Fachärztin für Allgemein- und Viszeralchirurgie. Sie leitet seit Oktober 2022 die Klinik für Adipositas-Chirurgie und metabolische Chirurgie am Sana Klinikum in Offenbach. Dort werden konservative und chirurgische Therapieoptionen für Patientinnen und Patienten mit Übergewicht und Adipositas angeboten. Das Konzept ist ein multimodaler Behandlungsansatz, der eine gezielte Ernährungstherapie mit einer Bewegungs-, aber auch Verhaltenstherapie kombiniert.
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Weiner: Wir operieren zu wenig in Deutschland. Wir machen 18.000 OPs pro Jahr. Der Bedarf liegt aber bei 1,4 Millionen. Wir schaffen das niemals, und deswegen sind Medikamente eine gute Ergänzung.
Und da spielen die Medikamente wirklich eine Gamechanger-Rolle, muss man sagen. Denn wir wissen ja, dass wir mit zehn Kilo Gewichtsabnahme tatsächlich das Auftreten von Nebenerkrankungen wie Bluthochdruck, Diabetes und so weiter verhindern können und auch die Lebenserwartung um fünf bis zehn Jahre verlängern.
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ZDFheute: Haben denn Abnehmspritzen tatsächlich das Potential, die Volkskrankheit Adipositas besser in den Griff zu bekommen?
Weiner: Wenn wir sehen, dass diese Erkrankung mittlerweile 20 Millionen Bundesbürger betrifft, also ein Viertel aller Bundesbürger, die Kinder mit eingerechnet, dann hat das eine erhebliche gesundheitspolitische Bedeutung. Wenn wir diese Krankheit weiterhin einfach negieren und als nicht existent darstellen und die Leute nicht behandeln, werden wir schwerwiegend mit den Folgeerkrankungen in 20 bis 30 Jahren zu kämpfen haben. Das gilt nicht nur zum Beispiel für Gelenksersatz. Da geht es auch um Pflegesituationen, die man vermeiden kann.
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ZDFheute: Welche Hürden sehen Sie im klinischen Alltag?
Weiner: Wir sehen, dass viele Patienten allein schon am Zugang zu der medikamentösen Behandlung scheitern. Auch überregional kommen Patienten zu uns, mit der bitte von Hausärzten, diese Präparate zu verordnen. Da fehlt es scheinbar an Erfahrung. Und es ist schon erstaunlich, dass Menschen durch die Bundesrepublik reisen, um einen Zugang zu einem Medikament zu bekommen, das zugelassen ist und eindeutige Wirksamkeiten hat. Viele Patienten werden schlichtweg zurückgewiesen und bleiben auf sich allein gestellt.
Die Wirkstoffe der Abnehmspritzen ahmen laut Sylvia Weiner natürliche Botenstoffe nach. Bei einigen Menschen stelle ein Mangel dieser Botenstoffe einen Teil des Krankheitsbildes dar. In diesen Fällen sei eine lebenslange Therapie nötig, um diesen Mangel auszugleichen.
Doch dies betreffe nicht alle Patienten, auch wenn leider noch nicht gut gemessen werden könne, wer davon betroffen sei und wer nicht.
Wichtig sei daher, das Ausschleichen der Behandlung gut zu begleiten. Denn durch die Gewichtsabnahme werde vermehrte Bewegung ermöglicht. Weiner zufolge könnten durch eine Umstellung des Verhaltens daher sehr nachhaltige Effekte erzielt werden. Eine lebenslange Behandlung komme daher nicht für jeden in Betracht.
ZDFheute: Was müsste sich im Umgang mit adipösen Patienten ändern?
Weiner: Das Grundlegende wäre erstmal tatsächlich die Anerkennung der Erkrankung Adipositas in unserer Gesellschaft. In den Köpfen selbst, aber auch tatsächlich auf einer gewissen Rechtsbasis. Denn wir haben immer noch eine Situation, dass gerade die konservative Behandlung der Adipositas in Deutschland nicht vergütet wird, insofern nicht abbildbar ist für Ärzte. Wir haben da wirklich großen Nachregelungsbedarf in vielen Bereichen.
Das Interview führte Dr. Thomas Bleich. Er ist Arzt und Redakteur der ZDF-Sendung "Volle Kanne - Service täglich".
Die Zahl der Menschen mit Adipositas, also starkem Übergewicht, ist laut einer Studie gestiegen. Weltweit sind demnach mehr als eine Milliarde Menschen betroffen.