Ableismus beim Arzt: Wie inklusiv ist das Gesundheitswesen?
Ableismus beim Arzt:Wie inklusiv ist das Gesundheitswesen?
von Markus Böhle
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Gesundheit ist für alle wichtig. Doch Menschen mit Behinderung werden strukturell diskriminiert. Viele Arztpraxen haben Barrieren und sind wenig inklusiv. Was man ändern könnte.
Viele Praxen sind auf Menschen mit Behinderung nicht eingerichtet. Amelie Cartolano nutzt einen Rollstuhl. Auch sie fühlt sich im Gesundheitswesen diskriminiert.04.09.2024 | 5:19 min
Einen passenden Arzt zu finden ist für Menschen mit Behinderung besonders schwer. Barrieren schränken ihre Wahl stark ein. "Man wird auch abgewiesen", sagt Hanna Kindlein vom Verein aktiv und selbstbestimmt (akse), der zu Fragen der Teilhabe berät. Sie kritisiert das deutsche Gesundheitswesen als wenig inklusiv.
Diskriminierung bei Ärzten und Gesundheitspersonal
Ein großes Problem sei, dass Ärzte und Personal teilweise überfordert wirkten, so Hanna Kindlein. Sie habe das selbst erlebt, zuletzt bei einer Magenspiegelung. Die Ärztin traf mit der Spritze die Armvene nicht, die aufgrund ihrer Behinderung schwerer zugänglich ist. Daraufhin habe man sie überredet ganz auf die Betäubung zu verzichten.
Viele Barrieren, wenig Zeit und Flexibilität: Ein strukturelles Problem, das man auch Ableismus nennt.
Was bedeutet Ableismus?
Ableismus kommt vom englischen Wort "ability" (Fähigkeit) und bezeichnet eine Form der Diskriminierung, die Menschen mit Behinderung auf ihre vermeintlichen körperlichen oder geistigen Fähigkeiten reduziert.
Anders als "Behindertenfeindlichkeit" hebt der Begriff die historisch gewachsene strukturelle Diskriminierung hervor. Dazu gehört das stereotype Bild, Menschen mit Behinderungen seien weniger wert oder weniger fähig als Menschen ohne Behinderung.
Ableismus zeigt sich auf vielfältige Weise: in stereotypen Denkmustern, sozialer Ausgrenzung, ungerechter Behandlung oder strukturellen Zugangsbarrieren. Im schlimmsten Fall droht sogar Gewalt. Das Projekt "Ableismus tötet" von Ability Watch hat Fälle recherchiert und dokumentiert.
Man kann den Begriff - ähnlich wie Rassismus oder Sexismus - im Alltag verwenden, um Bewusstsein zu schaffen. Außerdem kann man eigene Stereotype und Vorurteile hinterfragen und sich für Barrierefreiheit und Inklusion einsetzen. Ziel ist, Menschen mit Behinderungen als gleichwertige Mitglieder der Gesellschaft zu respektieren und zu behandeln.
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Gesundheitliche Nachteile durch Ableismus
Diskriminierung kann gesundheitliche Folgen haben, sagt Kerstin Augener, Frauenärztin beim Familienplanungszentrum Berlin e. V.. In der Gynäkologie sei es zum Beispiel ein großes Problem, wenn Frauen aufgrund von Barrieren und knapper Untersuchungszeit schlechte Erfahrungen machen.
Auch könnten andere Erkrankungen verschleppt und dann schwerer behandelt werden, so die Frauenärztin weiter.
Vorteilhaft sei hier etwa ein Lifter, der Patientinnen vom Rollstuhl sicher in den gynäkologischen Stuhl hebt. Doch in Deutschland besitzen das nur wenige Praxen. Es gebe keine Abrechnungsziffer für die Mehrkosten oder den Mehraufwand, sagt Augener.
Arztpraxen und Barrierefreiheit
Barrierefreiheit im Gesundheitswesen bedeutet, dass alle Menschen, unabhängig von ihren körperlichen oder geistigen Fähigkeiten, gleichberechtigt Zugang zu Gesundheitsleistungen und Gesundheitsinformationen haben.
Die Stiftung Gesundheit nennt 15 Kriterien für eine barrierefreie Praxis - darunter stufenfreier Zugang, rollstuhlgerechte Praxis, Orientierungshilfe für Sehbehinderte, behindertengerechte Parkplätze, höhenverstellbare Untersuchungsmöbel, Infomaterial in leichter Sprache. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) listet über 80 Kriterien, bezogen auf sechs Beeinträchtigungsarten.
Es gibt einige Vorgaben zur Barrierefreiheit im Rahmen baurechtlicher Genehmigungsverfahren (Neubau oder Nutzungsänderung). Abgesehen davon sind Praxen bislang nicht verpflichtet, diese Kriterien einzuhalten.
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Wie barrierefrei sind Arztpraxen?
Laut einer Analyse der Stiftung Gesundheit hatten 2023 nur 43,9 Prozent der Arztpraxen mindestens eine Maßnahme, die Barrieren für mobilitätseingeschränkte Personen vermeidet, etwa einen stufenfreien Zugang oder ein rollstuhlgerechtes WC. Einfache Maßnahmen für Menschen mit Hörbehinderung gab es in 20 Prozent der Praxen, Orientierungshilfen für Menschen mit Sehbehinderung in 8,2 Prozent. Nur 1,5 Prozent der Arztpraxen nutzten leichte Sprache für Websites oder Infomaterial.
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Wie das Gesundheitswesen inklusiver werden kann
Das Bundesministerium für Gesundheit arbeitet an einem Aktionsplan für ein diverses, inklusives und barrierefreies Gesundheitswesen. Einen Entwurf dazu hat das Bündnis Inklusives Gesundheitswesen kürzlich stark kritisiert und verlangt Nachbesserungen. Er sei "unzureichend" und "unverbindlich".
Das Bündnis besteht aus Selbstvertretungsorganisationen und Einrichtungen, die Hilfs- und Beratungsangebote für Menschen mit Behinderungen vermitteln. Es fordert in einem eigenen Aktionsplan gesetzliche Sofortmaßnahmen, verpflichtende Maßnahmen zur Barrierefreiheit, eine stärkere Regelversorgung, mehr Partizipation und vieles mehr.
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Kassenärzte setzen auf Freiwilligkeit
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) sieht verpflichtende Barriere-Abbau-Maßnahmen aber kritisch. Vorgaben und Kosten könnten Praxisschließungen verursachen. Förderprogramme zur Unterstützung freiwilliger Maßnahmen seien besser.
Viele ärztliche Leistungen seien pauschaliert und zeitlich knapp bemessen. Doch die Versorgung von Menschen mit Behinderung erfordere häufig mehr Zeit. Es sei denkbar, diesen Aspekt in den Gebührenordnungen stärker zu berücksichtigen.
Mehr Zeit und mehr Geld für Inklusion: Hanna Kindlein begrüßt das. Sie fordert aber auch politische Vorgaben zur Barrierefreiheit. Es sei wichtig endlich zu Handeln. Je eher, desto besser.
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In "einfach Mensch" erzählen Menschen mit Behinderung und sozial Benachteiligte selbst. Die Reportage entsteht in Zusammenarbeit mit der "Aktion Mensch".