Künftig können Neuwagen nur noch mit bestimmten Sicherheitssystemen in der EU zugelassen werden.05.07.2024 | 1:20 min
"Sie fahren 50 Stundenkilometer und haben eine Sekunde Reaktionszeit. Wie lange ist Ihr Reaktionsweg?" Na, können Sie diesen Klassiker aus der Fahrschule beantworten?
Zugegeben: Der Autor dieses Textes musste die Faustformel auch noch einmal nachschlagen. Sie lautet:
(Geschwindigkeit : 10) x 3 = Reaktionsweg.
Bei Tempo 50 beträgt der Reaktionsweg also 15 Meter.
Die EU schafft den Reaktionsweg nun praktisch ab
Was für Generationen von Fahrschülern Pflicht-Wissen war, könnte bald irrelevant sein. Denn die
Europäische Union hat den Reaktionsweg praktisch abgeschafft: Seit 7. Juli 2024 greifen in der EU neue Vorgaben, wodurch zahlreiche Fahrassistenzsysteme für Neuwagen verpflichtend werden - darunter der Notbremsassistent, der den Bremsvorgang beinahe in Echtzeit einleitet.
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Welche Assistenzsysteme noch Pflicht werden, wie sie funktionieren und wie sie das Auto für alle Verkehrsteilnehmer sicherer machen - ein Überblick.
Welche Fahrassistenzsysteme sind jetzt Pflicht?
Für Andreas Herrmann, Direktor am Institut für Mobilität in St. Gallen, tragen vor allem drei Assistenzsysteme dazu bei, "die Anzahl der Unfälle und deren Schwere im Straßenverkehr massiv zu reduzieren".
Notbremsassistent
Er sei "das zentrale Element, um Autos sicherer zu machen", sagt Herrmann. Der Assistent könne Hindernisse "im Prinzip in Echtzeit identifizieren und das Bremskommando weiterleiten". Beim Einleiten des Bremsvorgangs bleibe nur die mechanische Verzögerung. "Die Reaktionszeit des Menschen ist aber im Prinzip kein Faktor mehr", sagt Herrmann.
Aktiver Spurhalteassistent
Dieser Assistent wird ab einer Geschwindigkeit von 60 km/h zur Pflicht. "Der Spurhalteassistent kann kleinere Unaufmerksamkeiten korrigieren", sagt Herrmann. Ein Vorteil für andere Verkehrsteilnehmer: Wer auf der Autobahn die Spur wechseln möchte, muss praktisch blinken - andernfalls provoziert er ein starkes Gegensteuern des Spurhalteassistenten.
Müdigkeitserkennung
Hier erkennen Sensoren, dass sich Fahr- und Lenkverhalten verändern - mitunter bevor der Fahrer selbst bemerkt, dass seine Aufmerksamkeit nachlässt. Die optischen und akustischen Warnsignale könnten bei der Unfallvermeidung "entscheidend" sein, sagt Herrmann.
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Welche Systeme werden noch verbaut?
Blackbox (Unfalldatenspeicher)
Der Unfalldatenspeicher soll eine bessere Aufklärung ermöglichen und dabei auch die Leistungsfähigkeit der Sicherheitssysteme analysieren.
Geschwindigkeitsassistent (ISA)
Soll automatisch Geschwindigkeitsbegrenzungen erkennen und bei Überschreitung optisch und akustisch warnen. Kann das Fahrzeug auch auf die erlaubte Maximalgeschwindigkeit drosseln.
Kopfaufprallschutz
Das betrifft die Fahrzeugfront sowie Motorhaube, Windschutzscheibe, A-Säule und das Dach.
Notbremslicht
Das Aufleuchten aller Rückleuchten bei einer Vollbremsung ab 50 km/h soll andere Verkehrsteilnehmer besser warnen.
Rückfahrassistent
Bislang oft Teil teurer Zusatzpakete, soll der Rückfahrassistent nun verpflichtend Verkehrsteilnehmer hinter dem Fahrzeug erkennen und vor Kollisionen warnen.
Betrifft die Pflicht auch mein altes Auto?
Nein, bereits zugelassene Fahrzeuge sind nicht betroffen. Unter Umständen sind die neuen Systeme sogar schon verbaut: In komplett neu entwickelten Fahrzeugen gilt die Pflicht für die meisten Fahrassistenzsysteme nämlich bereits seit dem 6. Juli 2022. Nun greift sie zum 7. Juli 2024 für alle Neuwagen. Zudem dürfen die Systeme dann nicht mehr dauerhaft deaktiviert werden.
Was verspricht sich die EU von der Neuregelung?
Daten des Statistischen Bundesamts zeigen: Autofahrer sind im Straßenverkehr die Hauptverursacher von Unfällen mit Personenschaden - mit deutlichem Abstand vor Fahrradfahrern.
Die EU-Kommission geht davon aus, dass durch die Assistenzsystem-Pflicht allein bis 2038 mehr als 25.000 Unfalltote und mindestens 140.000 Schwerverletzte in Europa vermieden werden können.
Wie zuverlässig sind die Fahrassistenzsysteme?
Laut Mobilitäts-Experte Herrmann gibt es einen Störfaktor und eine Herausforderung - das Wetter und das Training der Algorithmen. "Starkregen kann dazu führen, dass Objekte nur verschwommen wahrgenommen werden", erklärt Herrmann, "auch können Sensoren bei Frost vereisen, was ihre Funktionsfähigkeit beeinflussen kann."
In "ganz seltenen Fällen" seien die Systeme auch mit neuen, ihnen noch unbekannten Objekten konfrontiert. "Wenn das System dann noch keine Erfahrungen gemacht hat, weiß es unter Umständen nicht, wie und ob es reagieren soll." Entscheidend sei hier, dass in Zukunft alle Fahrzeuge aller Marken voneinander lernen könnten. "Führende Firmen wie Mobileye arbeiten bereits mit vielen Herstellern zusammen, was die Objekterkennung erleichtert", sagt Herrmann.
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Welche Systeme sind in Zukunft noch denkbar?
Der nächste große Schritt sei autonomes Fahren, sagt Herrmann. "Im Grunde genommen haben moderne Autos bereits alle Systeme, die dafür notwendig sind." Ein Spurhalteassistent sei längst in der Lage, auch große Kurven eigenständig zu fahren. "Es geht nun darum, die zur Verfügung stehenden Systeme gleichzeitig zu nutzen - und die Sensorik so genau zu gestalten, dass wir uns auf sie verlassen können."
Auch die nächste Generation von Algorithmen könne die Sicherheit verbessern. "Stellen Sie sich vor, auf beiden Seiten Ihrer Straße spielen Kinder", sagt Herrmann. "Traditionell würden die Sensoren die Kinder identifizieren. In Zukunft erkennen Algorithmen auch, ob die Kinder miteinander spielen - was die Gefahr, dass ein Kind auf die Straße rennt, erhöht."
Mit der
Industrie 4.0 hofft Herrmann aber auf noch "progressivere Systeme". "Meine Jacke könnte beispielsweise über eigene Sensoren verfügen und so mit nahenden Autos kommunizieren: 'Ich bin ein Mensch, ich bewege mich, ich kreuze vielleicht deinen Fahrtweg'." Das Auto von Morgen könnte mögliche Gefahren so antizipieren - und wäre damit noch sicherer als der "Echtzeit"-Notbremsassistent von heute.
Der Beitrag wurde erstmals im Februar 2024 veröffentlicht.