Analphabetismus: Wo Betroffene Hilfe finden

    Nicht lesen und schreiben können:Wege aus dem Analphabetismus

    von Victoria Kerber
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    Lesen und Schreiben - eine Selbstverständlichkeit. Doch Millionen Menschen in Deutschland sind gering literalisiert. Wie man Analphabetismus erkennt und Betroffenen helfen kann.

    Leben mit Analphabetismus
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    Keine zusammenhängenden Texte lesen und schreiben können - das ist Alltag für über 6,2 Millionen Menschen in Deutschland. Sie können zwar einzelne Sätze lesen und schreiben, aber keine zusammenhängenden Texte verstehen. 300.000 von ihnen können überhaupt nicht lesen und schreiben. Vor allem Männer sind davon betroffen.
    Analphabetismus betrifft nicht nur Menschen mit Migrationshintergrund, die Hälfte der Personen sind deutsche Muttersprachler. Entgegen dem Klischee, dass Analphabetismus aufgrund von mangelnder Intelligenz auftritt, hat der Großteil der Analphabeten einen Schulabschluss und mehr als die Hälfte geht einer Arbeit nach.

    Das Wort "funktionaler Analphabet" wurde 2010 von der LEO-Studie geprägt, welche Daten zur Alphabetisierung erhebt. Da es aber mittlerweile als stigmatisierend angesehen wird, verwendet man stattdessen heute eher den Begriff "gering literalisiert", um Betroffene zu beschreiben.

    Ursachen von Analphabetismus

    Schon im Kindesalter wird der Grundstein für die späteren Lese- und Schreibkompetenzen gelegt. Fehlt die Förderung, können hier schon erste Defizite auftreten. Geht in der Schule der Anschluss früh verloren, kann es zu einem dauerhaften Rückstand kommen, der nur schwer wieder aufgeholt werden kann. Diese Probleme können sich dann bis ins Erwachsenenalter ziehen.
    Wenn das Alphabet zur Qual wird": Bela Lamm sitzt am Tisch und hat eine Kapuze auf. Vor ihm liegt ein Papierblock. In seiner rechten Hand hält er einen Kugelschreiber.
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    Jan-Peter Kalisch, Projektleiter beim Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung nennt soziale, familiäre sowie gesundheitliche Gründe als Ursachen für Analphabetismus. Diese äußern sich in wenig Unterstützung beim Lernen oder finanziellen Problemen. Aber auch individuelle Beeinträchtigungen wie Legasthenie, Sprachfehler oder eine spät erkannte Sehschwäche können zu Analphabetismus führen.

    • Primärer Analphabetismus tritt auf, wenn eine Person nie Lese- und Schreibkompetenzen erworben hat.
    • Bei sekundärem Analphabetismus wurden die einmal erlernten Kompetenzen wieder verlernt.
    • Funktionale Analphabeten können einzelne Wörter oder Sätze lesen, haben jedoch Schwierigkeiten, zusammenhängende Texte zu lesen oder zu schreiben.

    Alltägliche Hürden für gering Literalisierte

    Analphabeten begegnen zahlreiche Hürden im Alltag. So zum Beispiel bei der Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln, wenn sie einen Fahrplan lesen oder ein Ticket kaufen müssen. Im Restaurant sind es Speisekarten, die für Personen mit mangelnder Lesekompetenz ein Problem darstellen.
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    Um sich nichts anmerken zu lassen, behelfen sich viele Analphabeten mit Tricks. So werden Verletzungen an Arm und Hand vorgetäuscht oder behauptet, man habe die Brille vergessen. Diese und andere Ausreden werden von den Betroffenen genutzt, um nicht stigmatisiert zu werden. Situationen, in denen sie lesen oder schreiben müssen, werden entweder im Voraus geplant oder ganz vermieden.

    Schwierig wird es immer dann, wenn spontane Situationen auftreten, in denen Betroffene lesen oder schreiben müssen. Hier entsteht Stress und unter Stress fallen die Probleme stärker auf.

    Jan-Peter Kalisch, Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung

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    Welche Hilfsangebote gibt es?

    Es gibt verschiedene Angebote für Analphabeten, um Lesen und Schreiben zu lernen. In den Volkshochschulen werden Lese- und Schreibkurse angeboten, die für Erwachsene ausgerichtet sind. Teils sind diese auch kostenlos. Lerntreffs und -cafés sind eine Möglichkeit, flexibel und ohne vorherige Anmeldung die Lese- und Schreibkompetenzen zu verbessern.
    Weitere Anlaufstellen sind das Alfamobil und Alfa-Telefon. Das Alfamobil fährt durch ganz Deutschland und informiert vor Ort über Lernangebote. Das Alfa-Telefon bietet eine anonyme Beratung an, bei der Betroffene sich über geeignete Kurse in der Nähe erkundigen können.
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    Wie man Betroffenen helfen kann

    Jan-Peter Kalisch empfiehlt, mit Betroffenen zu reden, sich Zeit zu nehmen, ihnen zuzuhören und sie zu ermutigen, Hilfe zu suchen. Dabei könne man ihnen erklären, warum es gut ist, das Lesen und Schreiben zu erlernen oder zu verbessern und welche Hilfsangebote es dafür in der Nähe gibt.

    Wie technische Hilfsmittel den Alltag erleichtern

    Die Digitalisierung hat dazu beigetragen, dass gering literalisierte Personen sich eigenständig behelfen können. Apps, Diktierfunktionen oder die Möglichkeit, Texte zu scannen, erleichtern den Alltag.
    Jan-Peter Kalisch betont jedoch, dass Betroffene sich nicht in allen Situationen mit diesen Mitteln behelfen können. Auch diese hätten Grenzen. Lesen und schreiben zu können, sei daher wichtig für die gesellschaftliche Teilhabe und Unabhängigkeit.

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