BGH: KZ-Sekretärin mitverantwortlich für Massenmord?

    BGH verhandelt über Revision:KZ-Sekretärin mitverantwortlich für Massenmord?

    Christoph Schneider aus der ZDF-Redaktion „Recht und Justiz“
    von Christoph Schneider, Leipzig
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    Das Landgericht Itzehoe hatte Ex-KZ-Sekretärin Irmgard F. wegen Beihilfe zum heimtückischen und grausamen Mord im KZ Stutthof verurteilt. Der BGH verhandelt nun in letzter Instanz.

    Angeklagte Irmgard F. (Archivbild)
    Angeklagte Irmgard F. (Archivbild)
    Quelle: dpa

    Persönlich muss sie nicht vor dem 5. Strafsenat des BGH in Leipzig erscheinen, die Angeklagte Irmgard F., inzwischen 99 Jahre alt. Doch viele andere sind gekommen. Ihre zwei Verteidiger, der Vertreter des Generalbundesanwalts, und ein gutes Dutzend Nebenklagevertreter, die ihre insgesamt 23 Mandanten, allesamt Überlebende des KZ Stutthof, vertreten.
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    Es ist kein Fall wie jeder andere, auch wenn Revisionen in Strafsachen normalerweise einem bestimmten Formalismus folgen. Voll besetzt ist der große Sitzungssaal am Bundesverwaltungsgericht - dahin ist der 5. Strafsenat, auch wegen des großen Interesses, ausgewichen.

    Verfahren endet mit Jugendstrafe

    Und doch ist es still, ganz still, als die Verhandlung in ruhigem sachlichen Ton beginnt. Studentengruppen, Schülerinnen und Schüler, sie hören sich zu Beginn den Sachvortrag des Berichterstatters Jan Gericke an. Der fasst zusammen, was das LG Itzehoe als Vorinstanz am 20. Dezember 2022 in sein Urteil geschrieben hatte.
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    Das hatte keine Zweifel an der Schuld der Irmgard F., verurteilte nach 15 Monaten Prozessdauer die Angeklagte wegen Beihilfe zum Mord in 10.505 Fällen und zur versuchten Beihilfe zum Mord in fünf Fällen zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren, wobei die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung ausgesetzt wurde. Weil sie in der Zeit von 1943 bis 1945, in der sie im KZ arbeitete, 18, 19 Jahre jung war - also eine Heranwachsende - endete das Verfahren mit einer Jugendstrafe.

    Landgericht Itzehoe: Beihilfe zum Mord

    Für das LG Itzehoe war die rechtliche Würdigung klar: Irmgard F. war eine junge Stenotypistin mit überdurchschnittlichen Fähigkeiten, die im Vorzimmer des herrischen Lagerleiters Hoppe, der auch rasch Leute austauschte, die ihm nicht passten, fast zwei Jahre durchgängig tätig war - nahezu ohne Fehlzeiten. Und sie schrieb Lagerlisten, Gefangenentransporte, war die zentrale Schnittstelle zum Lagerleiter, setzte seine mündlichen Weisungen in Schriftform um.
    Dass sie das KZ Stutthof und das, was in ihm vorging, nicht kannte, "liegt schlicht außerhalb jeglicher Vorstellungskraft", so formulierte es das LG Itzehoe in der mündlichen Urteilsverkündung. Die Beihilfe zum Mord gegeben, denn Irmgard F. förderte die Arbeit des Lagerkommandanten durch ihre Schreibtätigkeit aktiv mit.
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    Kernfrage: Schreibkraft mitverantwortlich?

    Doch die Verteidigung legte Revision ein, hat Zweifel an der Beurteilung des KZ Stutthof als reines Vernichtungslager, denn in den ersten Jahren war es ein Arbeitslager. Und: Verurteilt wurden bisher Wachleute und Aufseher, aber keine einzelne Schreibkraft. Nicht zweifelsfrei habe außerdem nachgewiesen werden können, dass F. von den systematischen Tötungen im Lager gewusst habe.
    Die Kernfragen also in der Revision: Kann der Dienst als Schreibkraft in einem KZ, das anfänglich kein reines Vernichtungslager war, als Beihilfe zum Mord gewertet werden? Und: Ist es möglich, dass auch einer Schreibkraft die grausamen Mordtaten zugerechnet werden können, die der Lagerkommandant befehligt hat?
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    Antrag: Revision zurückweisen?

    Ausnahmslos sind die anwaltlichen Nebenklagevertreter dieser Ansicht. In der mehr als vierstündigen Hauptverhandlung vor dem BGH wird deutlich, dass Irmgard F. den Kommandanten des Lagers nicht nur unterstützte, sondern die Kommandantur auch bekräftigte - sie war ein Zahnrad im Getriebe der Todesmaschinerie, wie der Vertreter des Generalbundesanwalts beim BGH, Udo Weiß, ausführte.
    Alle beantragen, die Revision der Verteidigung zurückzuweisen. Das Urteil des LG Itzehoe müsse Bestand haben.
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    Spärliche Einlassung der Angeklagten

    Besonders eindrücklich wird es am Ende der Verhandlung, als Rechtsanwältin Christine Siegrot eine Erklärung ihres 96-jährigen Mandanten, einem der Überlebenden des KZ Stutthof, verliest: Danach war Stutthof ein monströses Vernichtungslager, das einzig dem Zweck diente, zu morden. Und: Er hätte sich ein Eingeständnis der Angeklagten gewünscht, ein Trauern, ein Bedauern.
    In Itzehoe hatte die Angeklagte in ihren Schlussworten drei Sätze gesagt: "Es tut mir leid, was alles geschehen ist. Ich bereue, dass ich zu der Zeit gerade in Stutthof war. Mehr kann ich nicht sagen."

    Urteil am 20. August erwartet

    Das mit Spannung erwartete Urteil wird der 5. Strafsenat des BGH unter Vorsitz von Gabriele Cirener am 20. August um 10 Uhr verkünden. Es dürfte das letzte große Verfahren gegen ehemalige KZ-Mitarbeiter sein.
    Christoph Schneider ist Redakteur in der Fachredaktion Recht & Justiz des ZDF

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