Experte: Von der Leyens Zehn-Punkte-Plan ein Armutszeugnis
Interview
Experte zu EU-Asylpolitik:Knaus: Von der Leyens Plan ein Armutszeugnis
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Beim EU-Gipfel steht von der Leyens Zehn-Punkte-Plan zur Asylpolitik im Fokus, der schärfere Abschieberegeln vorsieht. Migrationsforscher Knaus nennt diesen ein Armutszeugnis.
Nach mühsamen Verhandlungen hat sich die EU noch nicht auf eine Asylreform verständigt. In Deutschland haben unterdessen rund 70 Organisationen Kritik geäußert, dass es außer dem Thema Asyl noch weitere drängende Probleme gäbe.17.10.2024 | 1:42 min
Die Flüchtlingsströme aus der Ukraine und dem Nahen Osten nehmen weiter zu, während Europa um Lösungen ringt. Der Zehn-Punkte-Plan von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen soll schärfere Abschieberegeln bringen, doch der Konsens wackelt.
Im ZDF-Politiktalk "maybrit illner" geht es am Donnerstagabend um das Thema "Mehr Kriege, mehr Flüchtlinge - zurück zum Schlagbaum in Europa?". Zu Gast ist unter anderem der Migrationsforscher Gerald Knaus. Im ZDFheute-Interview zeichnet der Sozialwissenschaftler die Fehler der EU in der Migrationspolitik auf und warnt vor einem Scheitern des Schengen-Raums.
In Brüssel beraten die Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Mitgliedsstaaten - auch über das Thema Migration. Kanzler Scholz forderte eine schnelle Umsetzung der EU-Asylreform.17.10.2024 | 0:27 min
ZDFheute: Polen hat angekündigt, vorübergehend Asylregeln auszusetzen. Ist das die Reaktion auf Deutschland, Menschen an den Grenzen zurückzuweisen?
Gerald Knaus: Der polnische Vorschlag ergibt keinen Sinn. Würde es dazu kommen, dann würde der Europäische Gerichtshof eine Entscheidung, das Recht auf Asyl auszusetzen, als rechtswidrig zurückweisen, wie er das im Fall Ungarns getan hat.
Mehr Kriege, mehr Flüchtlinge - zurück zum Schlagbaum in Europa? Im Polit-Talk "maybrit illner" diskutieren der Grünen-Vorsitzende Omid Nouripour, Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU), Migrationsforscher Gerald Knaus, Journalistin Kristina Dunz, die Leiterin des ZDF-Studios Warschau, Natalie Steger, und ZDF-Rechtsexpertin Sarah Tacke.
Zu sehen um 22:15 Uhr im ZDF oder im Livestream in der ZDF-Mediathek.
Das gilt auch für den Vorschlag der Union, in Deutschland das EU-Recht unter Verweis auf einen nationalen Notstand auszusetzen. Diese Diskussionen suggerieren eine Notlage, in der am Ende nur die radikalsten Maßnahmen helfen. Radikale Maßnahmen aber trauen viele nur den radikalsten Parteien zu.
Regierungschef Donald Tusk hat eine zumindest vorläufige Aussetzung des Rechts auf Asyl angekündigt. 12.10.2024 | 1:47 min
ZDFheute: Haben Sie eine Vorstellung, wohin Polen die Menschen abschieben möchte?
Gerald Knaus: Es gibt ja bereits seit Herbst 2021 illegale Pushbacks an der polnischen Grenze zu Belarus. Wenn allerdings diskutiert wird, jeden an der deutschen Grenze nach Polen für Asylverfahren dorthin zurückzuweisen, dann bedeutet ein Aussetzen des Asylrechts in Polen, dass dies unmöglich wird. Sogar Schengen-Überstellungen von Asylsuchenden fallen dann aus.
So geht es Österreich mit Orbans Ungarn. Positiv wäre nur, wenn diese Diskussion zu einer Politik der EU führt, die Polen wie Deutschland hilft, indem sie Leute ohne Gewalt entmutigt, weiter über Belarus zu versuchen, in die EU zu kommen. Dazu bräuchten wir endlich sichere Drittstaatsabkommen.
Mehrere Länder, darunter auch Deutschland haben Grenzkontrollen eingeführt um gegen illegale Migration vorzugehen. Das sei allerdings nicht genug.10.10.2024 | 1:34 min
ZDFheute: Ursula von der Leyen rechnet mit noch mehr Flüchtlingen aus dem Nahen Osten und hat für diesen Fall Notfallpläne angekündigt. Was ist davon zu halten?
Gerald Knaus: Dieser Zehn-Punkte-Plan ist ein Armutszeugnis. Da werden zu viele Textbausteine aneinandergefügt, die wir so seit zehn Jahren kennen, ohne das Benennen der brennenden Probleme und ohne Analyse dessen, was in den letzten Jahren funktioniert hat und was nicht.
Die Idee von Abschiebezentren in Drittstaaten etwa. Nicht einmal Albanien ist heute dazu bereit, Menschen, deren Asylantrag von Italien in Albanien abgelehnt wird, dauerhaft in Albanien zu belassen.
Italien plant männliche Flüchtlinge aus sicheren Herkunftsländern in Lagern in Albanien unterzubringen. Dort sollen Asylanträge schnell geprüft werden.16.10.2024 | 1:39 min
ZDFheute: Die EU-Mitgliedsländer hatten sich ja erst im Frühjahr mühsam auf eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) geeinigt. Dieses sieht unter anderem verschärfte Abschieberegeln vor. Sind diese Regelungen jetzt schon überholt?
Gerald Knaus: GEAS war schon an dem Tag überholt, an dem es präsentiert wurde. Da hat ein Berg eine Maus geboren. Wir haben ein Bündel von ungelösten Problemen.
Quelle: dpa
GEAS besteht aus zehn Rechtsakten. Kern des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems ist zum einen, dass alle Schutzsuchenden noch an den Außengrenzen der EU ein "Screening"-Verfahren durchlaufen, in dem innerhalb von fünf Tagen entschieden werden muss, ob es mit einem Asylverfahren oder einer Rückführung weitergeht.
Über den Asylantrag selbst muss dann innerhalb von zwölf Wochen entscheiden werden. Zum anderen soll bei bestimmten Asylsuchenden ein Asylverfahren an der Grenze innerhalb einer Transitzone stattfinden. Dies betrifft solche Asylsuchenden, die aus Drittstaaten mit einer Anerkennungsquote von weniger als 20 Prozent kommen, bei denen eine Gefahr für die nationale Sicherheit oder Ordnung vermutet wird oder die über ihre Identität getäuscht haben.
Im Rahmen eines neu geschaffenen Solidaritätsmechanismus sollen zudem die Länder mit einer hohen Zahl an Schutzsuchenden entlastet werden. Die Mitgliedsstaaten, die keine Geflüchteten aufnehmen, müssen finanzielle oder alternative Beiträge leisten. Daneben wurden zum Beispiel noch der Ausbau einer Datenbank oder einheitliche Mindeststandards in den Ländern festgelegt.
Eine humanitäre Katastrophe an den EU-Außengrenzen, auch dieses Jahr sind schon wieder über 2.400 Menschen auf dem Weg nach Europa ertrunken - sowohl im Atlantik, auf dem Weg zu den Kanarischen Inseln als auch im Mittelmeer.
Tote und Vermisste im Mittelmeer
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Die Solidarität in der EU bei der Vergabe von Schutz ist heute geringer als vor zehn Jahren. Wir schlafwandeln in die Abschaffung von Schengen, ohne dass Binnengrenzkontrollen irreguläre Migration reduzieren würden. Am Ende drohen hier auch katastrophale Folgen für die Wirtschaft. Und wir haben eine politische Krise.
Immer mehr Menschen trauen den Parteien der Mitte nicht zu, ihre Versprechen zur Kontrolle irregulärer Migration umzusetzen. Und wählen Parteien, die radikal fordern, Asyl und die Menschenrechtskonvention ganz abzuschaffen. Es braucht dringend Ernsthaftigkeit der Parteien der Mitte und europäischen Institutionen, angemessen zu reagieren.
Mit der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, kurz GEAS, soll es erstmals möglich werden, Asylverfahren bereits an den EU-Außengrenzen durchzuführen.19.09.2023 | 7:58 min
ZDFheute: Welche Lösungen hätten wir denn?
Gerald Knaus: Was hat in den letzten Jahren irreguläre Migration in die EU für einige Jahre drastisch und schnell reduziert? Am wichtigsten war die Vereinbarung 2016 mit der Türkei. Diese Kooperation, die 2020 zusammenbrach, muss dringend erneuert werden.
Das war ein zentraler Vorschlag der EVP mit Ursula von der Leyen an der Spitze im Wahlkampf für die Europaparlamentswahlen. Es steht im CDU/CSU-Grundsatzprogramm. Darüber sollten wir ernsthaft reden. Und nicht Phantomdebatten führen, wie Asylanträge in Deutschland durch Zurückweisungen in Bayern reduziert werden.
Auch die Bundesregierung sollte sich bewegen, sie bremst immer noch bei sicheren Drittstaaten auf EU-Ebene, vor allem die Grünen versuchten das bislang zu verhindern. Dabei steht mittlerweile die Zukunft von Asyl, ja die Zukunft der EU selbst auf dem Spiel.
Das Interview führte Micha Wagenbach von der Redaktion "maybrit illner".